Angedacht!
„Du wollest dich aufmachen und über Zion erbarmen; denn es ist Zeit, dass du ihm gnädig seist, und die Stunde ist gekommen – denn deine Knechte lieben seine Steine und tragen Leid um seine Trümmer – dass die Völker den Namen des Herrn fürchten und alle Könige auf Erden deine Herrlichkeit, wenn der Herr Zion wieder baut und erscheint in seiner Herrlichkeit.“
Psalm 102,14-17
Liebe Leserinnen und Leser,
awissen Sie, woran ich bei diesem Bibelwort „hängen geblieben“ bin? An den Steinen und den Trümmern. Ich weiß natürlich, dass es in diesem Psalm um das zerstörte Jerusalem geht, aber meine Gedanken wandern zum Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. Der 1743 fertiggestellt Bau brach nach dem Bombardement Dresdens 1945 in sich zusammen, wurde1966 zum „Mahnmal für die Opfer des Bombenkrieges“ erklärt und war ein wichtiger Ort für die Friedensgruppen in der DDR, die die Ruine mit Kerzen schmückten. 1993 erging der „Ruf aus Dresden“ mit der Bitte um weltweite Spenden für den Wiederaufbau, der 2005 mit der Wiedereinweihung abgeschlossen werden konnte. Haben da nicht Menschen Steine geliebt und Leid getragen um Trümmer? Wieviel Wiederaufbau von Ruinen wäre auf der ganzen Welt gerade nötig? Trümmer sind eine Mahnung, nicht noch mehr Trümmer zu verursachen.
Ich denke auch an Menschen, die im übertragenen Sinne vor den Trümmern ihres Lebens stehen, weil Beziehungen durch Streit und Trennung zerstört wurden, weil der Tod Lücken groß wie Bombentrichter in Herzen und Familien gerissen hat, weil Gräben zwischen Freunden sich aufgetan haben und niemand weiß, wie sie zu überwinden wären. Schuld hinterlässt Lebensruinen, Alter und Krankheit tun das Ihre dazu. Nicht wenige fühlen sich wie Trümmerhaufen, die als vereinzelte Steine sinnlos in der Gegend herumliegen. Diese persönliche Lesart des Psalms hat auf jeden Fall auch ihr Recht. Liest man Psalm 102 einmal im Ganzen, stellt man fest, dass es dabei durchaus um die individuelle Klage eines Einzelnen geht – aber auch um die Klage des Volkes Israel im Babylonischen Exil.
Und was ist nun angesichts all dessen die Bitte an Gott? Dass er sich aufmachen soll von seiner himmlischen Wohnung, um in Herrlichkeit zu erscheinen und Zion wieder zu bauen. Es liegt an der hebräischen Grammatik, dass gar nicht ganz klar ist, ob es um Dinge geht, die Gott tun soll, oder um solche, die er tun wird oder um solche, die er schon tut. Und wiederum hat es mit der Bedeutung von Zeit in Bezug auf das Wort Gottes zu tun, dass wir diesen Psalm heute als unseren Adventspsalm lesen können. Die geschichtlichen Dimensionen aus der Entstehungszeit damit nicht weg und auch nicht ausgeblendet, aber es sind noch weitere Dimensionen zu entdecken.
Wenn also eine Gemeinde am 4. Advent diese Worte betet, dann sind sie Wirklichkeit. Wir sind Gemeinde kurz vor Weihnachten, die Zeit ist herangekommen, dass Gott sich zu uns aufmachen soll, wenn wir das Fest seiner Erscheinung ist der Welt wieder feiern. Denn er hat ja die Sehnsucht seines Volkes im Alten Bund erfüllt, er hat dieses Gebet erhört und er ist erschienen. Allerdings noch nicht so, dass alle Völker seine Herrlichkeit fürchten sollen. Das wird geschehen am Ende der Zeiten, insofern bleibt der Psalm 102 ein Gebet um etwas, das Gott noch tun wird.
Das Wort Herrlichkeit hat hebräisch etwas mit „gewichtig sein, bedeutungsschwer“ zu tun. Nun war so ein Neugeborenes im Stall von Bethlehem ja eher leicht. Weihnachten, den Weg den Gott für seine Menschwerdung gewählt hat, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Dass er so und nicht anders erscheinen wollte, um die Beziehung zwischen sich selbst und den Menschen, die durch die Sünde in Trümmer gelegt wurde, neu zu bauen, muss verkündigt werden.
Und wenn er in ein Menschenleben kommt, um da den Wiederaufbau durchzuführen, dann ist das oft genauso verborgen. Und es dauert. Vielleicht hilft auch hier wieder das Bild der Dresdner Frauenkirche. Es ging so schnell, dass man die Fortschritte sehen konnte, aber nichts war im Handumdrehen fertig.
Und wenn in einem Leben, vielleicht einem Leben, das auf den Tod zugeht, nun gar nichts mehr von Aufbau, sondern nur noch von Abbau zu sehen ist? Dann kommt noch eine weitere Dimension des Wortes Gottes ins Spiel, nämlich die Ewigkeit. Auch dieses Zion wird der Herr wieder bauen und es wird sich um eine völlige, unzerstörbare Wiederherstellung handeln.
Gott wird sich aufmachen, um uns zu besuchen. Er ist uns gnädig. Darum gilt am 4. Advent in besonderer Weise: Freuet euch im Herrn alle Wege und abermals sage ich, freut euch! Der Herr ist nahe.“ (Philipper.4,4.5b)
Ihre Andrea Grünhagen