Aus der Predigtwerkstatt von Louis Harms


Ludwig Harms


Eine Sammlung bisher unveröffentlichter Predigten des „Heidepastors“ Louis Harms gibt Einblick in dessen Arbeitsweise. Kann man an den Predigten von Louis Harms lernen, warum es im 19. Jahrhundert in Hermannsburg zu einer so großen Erweckung kam? selk.de hat dazu Pastoralreferentin Dr. Andrea Grünhagen, Assistentin im Kirchenbüro der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Hannover befragt, eine profunde Kennerin der Geschichte des berühmten Erweckungspredigers.

Andrea GrünhagenFrau Dr. Grünhagen, was hat Sie am meisten überrascht bei der Sichtung der bisher unveröffentlichten Predigten von Louis Harms?

Grünhagen: Ganz ehrlich: die Kürze der Predigtmanuskripte. Die berühmten Evangelien- und Epistelpredigten, die Louis Harms für den Druck geschrieben hat, sind deutlich umfangreicher, und von Ohrenzeugen wissen wir auch, dass er sehr lange gepredigt hat, weshalb seine Vorgesetzten ihn regelmäßig ermahnten. Es muss also auf der Kanzel noch zusätzliche freie Redeanteile gegeben haben.
Außerdem finde ich spannend zu beobachten, wie sehr er sich sowohl in der Diktion als auch in der Themenwahl über sein ganzes Predigerleben hin treu geblieben ist.

Was war so besonders damals in Hermannsburg, dass eine derartige Erweckung stattgefunden hat? Waren es die Predigten von Louis Harms, war es seine Persönlichkeit?

Grünhagen: Louis Harms und sein Hermannsburg sind einfach ein Phänomen! Es ist geradezu paradox, wie einer, der homiletisch so ziemlich alles falsch macht, trotzdem als einer der größten Erweckungsprediger gilt. Rhetorische Kunstgriffe, gefällige Erscheinung und Redeweise – alles Fehlanzeige. Allerdings, wenn immer wieder eingeschärft wird, der Prediger solle doch den Hörer und seine Situation bedenken und darauf eingehen – tja, das hat Louis Harms durchaus getan. Allerdings nicht nur beim Zuspruch des tröstlichen Evangeliums, sondern in hohem Maße bei der Predigt des Gesetzes. Da ist er erschreckend konkret geworden. Er kannte seine Gemeinde und eben auch ihre Sünden. Seine Schroffheit hat der Wirkung der Predigten keinen Abbruch getan.
Und die Persönlichkeit? Gibt es typische Eigenschaften bei Pfarrern, die Erweckungen auslösen? Schön wäre es, leider ist es nicht ganz so einfach. Man kann im Rückblick Zusammenhänge beobachten: Scheinbare Zufälligkeiten, wie die Tatsache, dass er eben auch ein Hermannsburger Kind war und manches Mal in der Predigt „wir“ sagen kann, wo ein anderer „ihr“ hätte sagen müssen. Bewegend finde ich z.B. die nun veröffentlichte Konfirmationspredigt, die er als Nachfolger seines Vaters ein halbes Jahr nach dessen Tod gehalten hat. Man spürt es, und er sagt es, wie er in den Lesungen noch die Stimme seines Vaters hört; und er konfirmiert die Kinder vor dem Altar, vor dem er einst selbst als Konfirmand gestanden hat. Nun, so etwas gibt es nicht oft, dass jemand in seiner Heimatgemeinde Pastor wird. Aber wie hilfreich es ist, wenn ein Pastor seine Gemeinde zutiefst kennt und diesen Ort und diese Menschen innerlich bejaht und liebt, das kann man da sehen.
Dann sind da sicher seine besonderen Gaben zu nennen, seine Sprachbegabung, seine Belastbarkeit. Manches ist auch schwer zu fassen. Louis Harms hatte etwas Eindringliches, Absolutes und auch Asketisches in seinem Wesen. Man konnte ihn nur lieben oder hassen. Aber vermutlich passiert mit „der eine sagt so, der andere sagt so“ auch keine Erweckung.

Gerade auch Jugendliche und junge Erwachsene nahmen sich damals zu Herzen, was ihr Pastor ihnen predigte. Dabei redete er ihnen scharf ins Gewissen; in der eben von Ihnen erwähnten Predigt zur Konfirmation 1845 klingt das beispielsweise so: „Vermeidet die bösen Gesellschaften, fliehet die Schmeichler, Lügner und Verführer als Mörder eures Leibes, fliehet die Gotteslästerer und Flucher und Spötter über Religion als giftige Seelenmörder…“Kritiker mögen das als „gesetzlich“ bezeichnen – ist es das nicht?

Grünhagen: „Gesetzlich“ ist damals wie heute nicht die Predigt des Gesetzes, und Louis Harms nannte die Pastoren „stumme Hunde“, die sich nicht trauten, auch das Gesetz zu führen. „Gesetzlich“ ist die Vermischung von Gesetz und Evangelium. Ich würde lieber heute so manchem Prediger gerne mal die Konditionalsätze herausstreichen und Floskeln wie „darum lasst“ und „nun“ oder „dankbar wollen wir nun…“ und die unterschwelligen Apelle – bevor ich solche Schärfe der Gesetzespredigt wie bei Louis Harms negativ finde. Warum nicht eine solche Predigtweise einmal auch als eine Anfrage an uns selbst verstehen? Mir selbst hat Louis Harms über die Zeiten hinweg schon ein paar Grundsätze vermittelt, z. B den Satz: „Es gibt eine Union, die ist noch viel schlimmer als die Union in der Lehre. Und das ist die Union im Leben.“

Der Harms-Forscher Hugald Grafe schreibt im Vorwort zum neu herausgegebenen Predigt-Band vom „Unbedingten“, das in den Predigten zu erkennen sei. Tatsächlich spricht Harms die Zuhörenden immer wieder als geliebte, als teure Kinder an und fleht sie geradezu an, ja, beschwört sie, ihrem Hirten Jesu zu folgen, auf seine Stimme zu hören, nicht aufzuhören zu beten, um die Seligkeit nicht zu verwirken. Heutzutage traut man sich kaum noch, in dieser Dringlichkeit vom Seelenheil zu reden. Wird das nicht mehr verstanden? Stößt das heute – im Gegensatz zu damals – eher ab?

Grünhagen: Tatsächlich hat es auch zu Louis Harms Lebzeiten viele abgestoßen. Dass er so ungemein konkret wurde beim Benennen von Sünden, besonders gegen das 6. Gebot, hat so manchen Predigthörer, besonders von der vornehmen Sorte, empört nach Luft schnappen lassen. Dass da ein Prediger noch an Himmel und Hölle samt der Existenz des leibhaftigen Teufels glaubte, war damals schon völlig unzeitgemäß. Der Mann sei ja dreihundert Jahre zurück, also irgendwo bei der Reformation oder der Orthodoxie hängengeblieben, sagte man damals. Er nahm es als Kompliment und meinte, genau genommen sei er etwa 1800 Jahre zurück.
Ihm waren solche Gedanken, was man „noch“ oder „nicht mehr“ oder „heutzutage“ sagen könnte völlig egal. Wenn er meinte, etwas aus Gottes Wort predigen zu müssen, dann tat er das.
Harms selbst hat dieses „Unbedingte“ einmal in einem Ratschlag an einen jungen Amtsbruder so beschrieben: „Mit des heiligen Geistes Kraft, akkurat nach dem Worte getrieben von der Liebe Christi, und dann ohne weiteres darauf und daran, und gesprochen, wie einem der Schnabel gewachsen ist, und getan, was man nicht lassen kann, und in jeder Seele eine Seele sehn, die Christus mit Blut erkauft hat, und die ihm gehört und die man ihm wiedergewinnen muss, das ist der frische Lebensweg.“
Gut an unserer heutigen homiletischen Ausbildung sind die Sicherungsmechanismen, die einen sorgfältig zurückfragen lassen, ob das, was man meint sagen zu müssen, auch wirklich im Bibeltext steht oder ob das vielleicht nur mein subjektiver Eindruck ist. Wenn Louis Harms z.B., auch noch bei einer Visitationspredigt, die sich im neuen Predigtband findet, voller Überzeugung behauptet, Blattern seien nicht ansteckend und falls doch, würde Gott einen schon behüten, dann ist das nicht nur verwegen, sondern richtig gefährlich.

Auch die Vollmacht, mit der Louis Harms predigte, wird heute deutlich in Frage gestellt. Heute würde wohl kaum mehr ein Pfarrer auf der Kanzel so bestimmt davon reden, dass nicht er, sondern Gott predigt?

Grünhagen: Vielleicht sollten sie dann lieber gar nicht auf die Kanzel gehen? Es gibt ja den Spruch, man könne nach einer Predigt entweder sagen „Haec dixit dominus – Das sagt der Herr“ oder es sein lassen.
Ein bisschen mehr Bewusstsein davon, dass ein Pfarrer tatsächlich die Vollmacht übertragen bekommen hat, Gericht und Rettung anzusagen, würde eigentlich nicht schaden. Und würde vielleicht Pfarrer und Gemeinde entlasten. Jemand wie Louis Harms hatte weder den Anspruch, die Hörer gut unterhalten zu wollen (obwohl die Sonntage in Hermannsburg zu einem „Event“ wurden), noch von ihnen gemocht zu werden (obwohl er sehr gut Aufmerksamkeit für seine Projekte zu erzeugen wusste), noch ihnen freundliche Ratschläge zu erteilen, mit denen sie dann machen konnten, was sie wollten. Er wusste sich verantwortlich für seine Gemeinde. Das hat etwas mit seinem Amtsverständnis zu tun, was ein sehr hohes war. Diese Vollmacht ist ja nicht etwas, das der Prediger als übernatürliche Fähigkeit hat, sondern etwas, das ihn als Person in Dienst nimmt und gebraucht. Was nicht heißt, dass es homiletisch nicht auch echt schief gehen kann, das war auch bei Louis Harms so, und die Gemeinde das dann erleiden muss. Auf alle Fälle war er als Prediger authentisch. Zum Abschluss noch mal sein Rat: „Unter Gottes Wort muss sich alles beugen, und kein Verhältnis und keine Folgen dispensieren davon. Dabei bitte ich Sie, wandeln Sie heilig, predigen Sie kein Wort, das Sie nicht selber tun…“

Was ist aus Ihrer Sicht das „Überzeitliche“ dieser Predigten, von dem man heute noch etwas lernen kann?

Grünhagen: Ich bin mir nicht sicher, ob man Harmspredigten heute noch mit Gewinn zur eigenen Erbauung lesen kann. Ich hab es mal versucht und einfach vor ein paar Jahren sonntags die jeweilige Evangelienpredigt gelesen. Das war ganz spannend und geistlich sicher nicht völlig umsonst. Aber 1:1 übertragen kann man natürlich nicht alles. Wissenschaftlich ist dieser neue Predigtband natürlich ein echter Schatz, weil er einem einen Blick in das Wie des Predigtschreibens von Louis Harms über einen langen Zeitraum hinweg ermöglicht. Kann man dabei etwas für das eigene Predigen lernen? In jedem Fall, und sei es am schlechten Beispiel. Und ganz nebenbei kann es auch sein, dass Gottes Wort durch den Prediger irgendwie wirkt…


Die Fragen stellte Doris Michel-Schmidt

Der Band „Aus der Predigtwerkstatt von Pastor Louis Harms“, herausgegeben von SELK-Pfarrer i.R. Dr. Hartwig Harms, ist im Verlag Ludwig-Harms-Haus erschienen und kostet 29,90 Euro.

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