Angedacht!


„Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Sehet, welch ein Mensch!“
Johannes 19,5


Dr. Andrea GrünhagenLiebe Leserinnen und Leser,

es mag ja eine merkwürdige Frage sein, aber was hat Pilatus da gesagt? Seine Worte sind uns vom Evangelisten Johannes überliefert, auf Griechisch. Die griechischen Worte müsste man übersetzen: „Siehe, der Mensch.“ Möglich ist aber auch die Variante: „Da ist der Mensch!“ Nun war Pilatus bekanntlich Römer, vielleicht sagte er auch auf Latein: „Ecce homo“, so findet man es in der lateinische Bibelausgabe. Bedeutende Werke der christlichen Kunst, die diese Szene darstellen, heißen so, „Ecce homo Darstellungen“. Leider bringt uns das in Sachen Übersetzung nicht weiter, es meint das Gleiche wie im Griechischen. Luther hat sich nun im Deutschen für „Welch ein Mensch“ entschieden.

Also, was hat Pilatus gesagt? Einfach nur: „Da ist der Mensch!“ im Sinne von „So, seht selbst, da habt ihr euren König, über den wir gerade diskutiert haben.“ Das wäre die banalste Möglichkeit. Oder „Welch ein Mensch!“ also „Da seht, wie man einen Menschen erniedrigen kann. Das ist weder ein Aufrührer noch ein König, das ist bloß ein geschundener Mensch.“ So wäre es in der Abfolge des Geschehens eine sinnvolle Aussage. Aber könnte man Pilatus nicht auch eine philosophischere Aussage zutrauen, nachdem er schon mit Jesus über die Frage nach der Wahrheit gesprochen hat? Vielleicht ist ja wirklich zu lesen: „Siehe, der Mensch an sich.“

Ja, die Berichte über die Passion Jesu sind sehr schonungslos, wenn es darum geht, was Mensch einander antun, was Geißelung, Spott, Schläge und Kreuzigung von einem Menschen übriglassen, was menschliche Sünde aus dem Sohn Gottes macht. Ein Häufchen Elend in dieser Szene und am Ende die zerschundenen menschlichen Überreste, die nur noch einigermaßen würdig zu begraben sind. Wen wundert es, dass sich immer wieder und immer häufiger Widerspruch gegen diese Passionsgeschichte regt, nein, so will man den Menschen nicht sehen, so ohne jede Würde und Hoheit, als Täter und Opfer: der Mensch.

Manche wollen auch Gott nicht so sehen. Das passt nicht zu ihren Wohlfühlgottesdiensten, die vor allem guttun sollen, in denen in zahlreichen Wendungen zwar vielleicht das „Lamm auf dem Thron“ oder so verherrlicht wird, aber bei all den säuselnden Melodien und netten Reimen der Schmerzensmann nicht vorkommt. Soll er ja auch nicht. Weder Gottes Sohn, der für uns leidet, noch Menschen, die leiden.

Andere wenden sich auf etwas höherem Niveau vom Anblick des verspotteten Gekreuzigten ab, indem sie sowohl seinen Tod als auch dessen Ursache wegdiskutieren und umdeuten. Nicht etwa, dass es bei dieser Geschichte irgendwie um Schuld ginge. Natürlich sind die jüdischen Verantwortlichen, die ihn ausliefern nicht schuld, Judas nicht, Pilatus auch nicht, nicht die römischen Folterknechte und vor allem wir auch nicht. Nein, es geht ja nur darum, dass ein vorbildlicher Mensch seine besondere Gottesbeziehung bis ans Ende konsequent lebte.

Was uns der Evangelist Johannes erzählt, ist eine brutale Szene. Ein bereits gefolterter Angeklagter wird jetzt auch noch dem Spott der Menge preisgegeben. Warum Pilatus das verfügt hat, darüber spekulieren die Theologen bis heute. Man kann das Bild aber auch einfach auf sich wirken lassen. Gerade die oben erwähnten bildlichen oder plastischen Darstellungen sind oft so gestaltet, als würde Jesus den Betrachter direkt ansehen. „Sieh hin, wende dich nicht ab! Sei nicht gleichgültig, fang an zu fragen nach dem Sinn dieser Passion!“

Mit dem Sonntag Judika beginnt die Passionszeit im engeren Sinne. Jedes Jahr sind wir aufgefordert, neu hinzusehen, wieder hinzusehen, zu betrachten, zu danken. Jedes Jahr trifft uns diese Aufforderung in einer anderen Situation unseres Lebens. Es ist die gleiche Geschichte, schon oft gehört, aber wir sind nicht dieselben wie vor einem Jahr oder vor fünf Jahren. Sehen Sie hin!

Ihre Andrea Grünhagen

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