Die ersten 100 Tage
Interview mit Superintendent Markus Nietzke
Pfarrer Markus Nietzke (54) wurde am 28. Oktober des vergangenen Jahres in Hermannsburg als Superintendent des Kirchenbezirks Niedersachsen-West der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) eingeführt. Die ersten 100 Tage im Leitungsamt liegen hinter dem früheren Missionsdirektor der Lutherischen Kirchenmission der SELK und derzeitigen Gemeindepfarrer des Pfarrbezirks Bleckmar-Hermannsburg (Kleine Kreuzgemeinde) der SELK. Das Team von selk.de hat den (gar nicht mehr so) neuen Superintendenten um ein Interview gebeten.
selk.de: Nach den ersten 100 Tagen: Wie sind die ersten Eindrücke als leitender Geistlicher des Kirchenbezirks?
Nietzke: Spannend! Erlebnisreich! Kaum war ich am 20. Oktober gewählt, ging es auch schon gleich „heftig“ los, jedenfalls in einer für mich so nicht erwarteten Weise. Dass Superintendenten der SELK viel zu tun haben, ist kein Geheimnis. Die Wahl fand relativ „spät“ im Jahreskalender unseres Kirchenbezirks statt. Der Grund dafür war die Kirchensynode im Frühjahr 2018, für die ich als Kandidat fürs Bischofsamt nominiert worden war, wodurch die anstehende Superintendentenwahl bei uns verschoben wurde. Jetzt wird die Kirchenbezirkssynode 2019 in unserem Kirchenbezirk relativ „früh“ stattfinden, ausgelöst durch die kommende Kirchensynode in Balhorn 2019. Also: Ganz viel war mit einem Mal ganz plötzlich in einem kleinen Zeitfenster, wie man so sagt, zu organisieren! Aber: Ich habe Frauen und Männer in unserem Kirchenbezirk an der Seite, die mich in diesen Aufgaben nach Kräften unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar.
selk.de: Sicher bedeutet so ein Nebenamt auch, sich neu „zu sortieren“.
Nietzke: Auf jeden Fall! Die zusätzliche Aufgabe fordert ein neues Justieren der zur Verfügung stehenden Zeit. Jeder Tag hat 24 Stunden und zum Pfarrerdasein gehört die strukturierte Selbstorganisation zu den größten Herausforderungen. Ich muss(te) nun neu überlegen, wie viel Zeit denn nun konkret zur Verfügung steht: als Ehemann und Vater, als berufener Pfarrer in einem Pfarrbezirk mit zwei Gemeinden und gut 350 Gemeindegliedern mit Wünschen, Bedürfnissen, Hoffnungen und Erwartungen und dann „on Top“ als Superintendent in einem Kirchenbezirk mit ganz unterschiedlichen, quirligen Gemeinden mitzuwirken. Ich sitze gerade an einer spannenden Auftragsarbeit für ein Pastoralkolleg und eine Kirchenbezirkssynode: „Strukturveränderungen in der SELK kreativ und gesundheitsfördernd begegnen“. Dass ich in den Veränderungen lebe, o.k., ihnen nun auch „kreativ“ und „gesundheitsfördernd“ begegnen: Wer hat sich das als Arbeitsauftrag bloß ausgedacht? (Nietzke lacht dabei.) Die Aufgabe reizt mich aber sehr!
selk.de: Worin liegen besondere Belastungen, worin nennenswerte Freuden?
Nietzke: Es fällt Arbeit an, wenn im Kirchenbezirk zwar elf Pfarrstellen vorgehalten werden, diese Arbeit aber seit Jahren – durch Vakanzen - durch acht Kollegen zu leisten ist, von denen einer im Nebenamt Propst, einer ein Superintendent und einer der Leiter des Praktisch-Theologischen Seminars ist. Als schließlich unlängst ein weiterer Kollege krankheitsbedingt ausfiel, wurde mir klar: Diese Situation pastoral zu verantworten, das gehört künftig zu deinem Alltag. Damit wirst du umgehen und sehr schnell viel Neues lernen (müssen), aber nicht ohne dabei auch für dich selbst und deine Freizeit und Gesundheit zu sorgen.
Nach der Wahl im Oktober habe ich ausgesprochen viele gute Wünsche per Brief, Mail und Telefon bekommen. Mir wird sehr viel Zutrauen und Wohlwollen von Kollegen und Frauen und Männern in den SELK-Gemeinden (nicht nur im eigenen Kirchenbezirk) entgegengebracht – das beschämt und beglückt mich zugleich.
Schließlich: Ich starte ja nicht ganz allein auf weiter Flur durch, sondern bin in Vorgänge eingebunden, die schon vor meiner Zeit als Superintendent begonnen wurden, so der Strukturwandel in unserem Kirchenbezirk und der SELK, Berufungsbemühungen für vakante Gemeinden und andere Vorgänge, die diskret zu behandeln sind und nicht in die breite Öffentlichkeit gehören.
selk.de: Die strukturellen Veränderungen sind allenthalben in der SELK besondere Herausforderungen der Arbeit. Was bewegt Sie diesbezüglich in Ihrem Kirchenbezirk?
Nietzke: Ich verstehe unseren Kirchenbezirk, in dem ich seit 2003 mitarbeite, als einen kleinen Teil des Weinbergs Gottes in Deutschland. Mir gefällt es gut, deshalb von unserem Kirchenbezirk als Garten zu sprechen und auf diese Weise gezielt über den Kirchenbezirk nachzudenken. In solch einem herrlichen Garten gibt es viel zu tun – wie alle wissen, die selbst einen pflegen. Dieses Bild ist für mich ein Leitmotiv, bei allem, was ich als Superintendent, immer mit anderen zusammen, tun darf und möchte. Der Wandel an sich ist nicht wirklich besonders herausfordernd oder neu – ist Kirche nicht immer im Wandel begriffen?
Wir haben es in Niedersachsen-West mit einen sehr attraktiven, innovativen Kirchenbezirk zu tun.
selk.de: Können Sie das an Beispielen veranschaulichen?
Nietzke: Da ist zum Beispiel ein Modellversuch im Blick auf Pfarramts- und Gemeindearbeit angesichts vieler Vakanzen: Im Oktober hat die Kirchenleitung der SELK einen Pfarrer auf eine so genannte „Springer-Stelle“ in unseren Kirchenbezirk berufen. Wir wollen damit den Dauervakanzen in unserem Kirchenbezirk probeweise auf eine andere Weise als herkömmlich begegnen. Wir versprechen uns davon Erfahrungen, die einerseits an die Kirchengeschichte andocken (Stichwort: Reiseprediger), und andererseits an das anknüpfen, was in der Wirtschaft „Change-Management“ genannt wird. Gemeint ist damit, wie wir die strukturellen Veränderungen als Wandel verstehen und gestalterisch aufgreifen. So ist etwa auch die Arbeit an veränderten Pfarrer- und Gemeindebildern notwendig, da erhoffen wir uns Impulse und Anregungen, die uns insgesamt als Kirche weiter nach vorne bringen.
Einen Impuls, den ich als Superintendent in dieser Beziehung setze, greift auf ökumenische Erfahrungen zurück. So gibt es aus Poitiers in Frankreich ein Projekt in der römisch-katholischen Kirche, wo sich – ich bleibe mal im Gartenbild – eine Pflanze mit Namen: „Örtliche Gemeinde“ findet. Es ist der Versuch, das französische Wort „équipe locale d‘animation“ in einem „secteur“ sprachlich zu fassen. Es geht dabei darum, in kleineren kirchlichen Verhältnissen nach einem bestimmten Modell versuchsweise und zunächst befristet Perspektiven für alternative Optionen einer kirchlichen Präsenz zu entwickeln.
selk.de: Als Superintendent haben Sie weite Strecken zurückzulegen. Empfinden Sie das als besondere Belastung, was Zeit und Kräfte angeht?
Von Hermannsburg aus in den Kirchenbezirk hinein kann bedeuten, locker bis zu 200 oder mehr Kilometer (eine Strecke!) zurückzulegen. By the way: Dies ist nicht mein Alltag. Aber: Ich setze hier ganz bewusst einen Akzent. Ich bin ganz angetan von E-Mobilität. Eigentlich hatte ich gehofft, mir würde ein E-Auto gesponsert werden können (das blieb bisher ein unerfüllter Wunsch), aber es haben sich andere Lösungen beim Autohändler meines Vertrauens angeboten. Ich fahre also leise und still, aber nicht heimlich, durch Niedersachsen-West, achte darauf, dass ich genug Zeit einplane, um zwischendrin mal etwas Naturstrom zu tanken (währenddessen ist immer ein kleiner Spaziergang drin). Ich denke, E-Mobilität hat Zukunft und eine von Gott bewegte Kirche, die dadurch mobil ist und bleibt, wird sich Themen widmen wollen, die der Bewahrung der Schöpfung einerseits und der Nachhaltigkeit dienen. Ich leiste mit meiner Entscheidung für ein E-Auto dazu auf diese Art meinen bescheidenen Beitrag. Das Fahren hat auch Nebeneffekte. Die Zeit im Auto ist nie vertane Zeit: Meine tägliche Fürbitte für die (Groß-)Familie, den Pfarrbezirk und Kirchenbezirk gewinnt dadurch viel mehr Zeit als „nur zuhause“; außerdem kann ich hier auch einfach mal Radio hören.
selk.de: Wenn ihr Blick auf die SELK als Gesamtkirche fällt: Was sind Ihre Wünsche an und für sie?
Nietzke: Wie ticken die Gemeinden der SELK heute? Was macht es spannend und lohnend in dieser Kirche zu sein? Was macht es, viel Zeit, ehrenamtliche Arbeit und Geld einzusetzen? Ich möchte im Aufblick zu Gott alles erbeten, alles erwarten und aus seiner Hand nehmen, was er uns in den nächsten Jahren als Kirche schenkt. Voller Zuversicht darauf warten, wie Gott Wunder wirkt. Wir brauchen diesen Blick, wenn es um unsere Kirche, um unsere Gemeinden, Strukturen, Finanzen, Personalfragen und ethische Überlegungen geht. Als Superintendent bin ich nicht der Taktgeber des Kirchenbezirks, sondern verstehe meinen Dienst eher als sorgfältiger Uhrmacher.
selk.de: Wie kann das aussehen?
Ich möchte gerne mit Gemeindegliedern, Frauen und Männern, die Dienst in der Kirche tun, auf unterschiedliche Weise in der Kirche mitwirken, die vor uns liegenden Herausforderungen unserer Zeit annehmen und mit großer geistlicher Sorgfalt bedenken. Unsere Glaubensaussagen, unser Bekenntnis und unser Festhalten an dieser Kirche als eigenständige und bodenständige Kirche sind in unserer Zeit verständlich auszulegen. Daran liegt sehr viel. Ebenso wie an transparenten Handlungsweisen. Die Sorge, woher künftig Pastoren kommen sollen, die den erwarteten Dienst kompetent und angemessen tun werden – ich habe genug Dauervakanzen vor Augen, und es werden ja immer mehr – nehme ich als dringende Anfrage an die Kirche wahr, kann die Sorge auch niemanden abnehmen, finde es aber erst einmal ehrlich, sich dieses überhaupt einzugestehen. Krisen – so habe ich es bei meinen Aufenthalten in Südostasien gelernt – können auch Chancen eröffnen. Ich glaube außerdem, das Potential an Eigenverantwortung in den Pfarrbezirken und Kirchenbezirken ist bei Weitem noch nicht erschöpft; vielleicht werden wir plötzlich ehrenamtlich geleistete Tätigkeiten von Frauen und Männern noch viel mehr zu schätzen wissen. Mein Lebensmotto: „Warten auf Gott“ – im Sinne von erwartungsfroh – heißt alles erhoffen; es lässt mich bei ehrlicher und ernsthafter Bestandsaufnahme auch gelassen mit den Fragestellungen unserer Zeit umgehen.
selk.de: Gibt es ein Bibelwort, das Ihnen im Blick auf Ihre Leitungsfunktion besonders wichtig ist?
Nietzke: Ja: „Mein Mund soll verkündigen deine Gerechtigkeit, täglich deine Wohltaten, die ich nicht zählen kann. Ich gehe einher in der Kraft Gottes des Herrn. Ich preise deine Gerechtigkeit allein. (Die Bibel: Psalm 71, Verse 15 und 16)
selk.de: Noch etwas Persönliches neben dem Dienstlichen: Welche Hobbies hat der leitende Geistliche des Kirchenbezirks Niedersachsen-West?
Nietzke: Ich lese sehr gerne – alles Erdenkliche –, sammle Pixi-Bücher – und habe ein paar besonders wertvolle Pixis geschenkt bekommen –; ich mag Scherenschnitte und übe mich darin. Ich habe angefangen, mit Likören aus Obst zu experimentieren – und sogar schon einen freudigen Mitstreiter an einem von hier aus gesehen entlegenen Ort gewonnen! Gerne würde ich mir mal irgendwann eine ganz eigene Marionette bauen. Die entsprechende Fortbildung zum Bauen der Marionette lockt mich schon seit vier Jahren. Wenn ich mal viel Geld, Zeit und Platz habe, möchte ich wohl gerne erfolgreicher Hobby-Gärtner sein.