Lesenswert
An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.
Entscheidungen an der Schwelle des Todes
Als Neurochirurg und Spezialist für bösartige Hirntumore ist Lee Warren jeden Tag mit dem Sterben konfrontiert. Seine Patienten haben kaum Aussicht auf Heilung. Lee Warren weiß meist schon bei der Diagnose: Das wird nicht gut ausgehen. Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb, betet er für und mit den Patienten.
Lee Warren ist Christ. Ohne seinen Glauben hätte er wohl kaum seinen Einsatz als Arzt im Irak-Krieg überstanden. Und ohne seinen Glauben würde er seinen höchst anspruchsvollen und kräftezehrenden Dienst an den Patienten nicht tun können. Das weiß Warren und ist gerade deswegen so angefochten, als er mehr und mehr spürt, dass er seine Gebete hinterfragt. Ist es nicht unsinnig, Gott um einen guten Verlauf, ja um Heilung zu bitten, obwohl er doch nach all seiner Erfahrung weiß, was mit den Patienten geschehen wird? Wie sollte er ihnen Zuversicht vermitteln? Wenn Gott offenbar bereits beschlossen hatte, den sterben zu lassen, der bei ihm als Arzt Hilfe suchte, was sollten dann all die Gebete?
Warren ist enttäuscht von Gott – und er ist enttäuscht von sich selbst, weil er seine Zweifel nicht mehr totschweigen kann.
Was ihm hilft, sind Gespräche: mit seinem Krankenhausseelsorger, mit seiner Frau, mit dem bekannten christlichen Autor Philip Yancey, den er um Rat fragt. Und nicht zuletzt helfen ihm immer wieder die wunderbaren und beeindruckenden Lebens- und Glaubenszeugnisse so mancher Patienten angesichts ihres bevorstehenden Todes.
Ohne all diese Hilfe hätte er vielleicht nicht annehmen können, wie Gott ihn auch über die schlimmste Zeit trägt, als sein Sohn Mitch stirbt und ihn diese Erfahrung in das tiefste Dunkel der Sinnlosigkeit stürzt. Wie er lernt, Schmerz und Leid aus einer anderen Perspektive zu sehen, Glück und Gottvertrauen nicht davon abhängig zu machen, ob die Diagnose „gutartig“ lautet und die Behandlung Erfolg verspricht. Es gebe eine Wahrheit, schreibt Warren, auf die er immer wieder gestoßen sei, ob als Arzt für Krebspatienten, als traumatisierter Kriegsveteran oder als Vater, der einen Sohn verloren hat: „Mein Glück darf nicht davon abhängen, ob mein Leben frei von Schmerz ist.“ Er erkennt das im Blick auf Jesus, der selbst vor die Wahl gestellt wird, „ob man den Schmerz zusammen mit dem Glück nimmt oder ob man das Nichts wählt. Beispielhaft für uns alle entschied er sich für Ersteres, sah dem Leiden ins Auge, das ihn erwartete, und warf seinen Glauben nicht weg.“
Lee Warren ist nicht nur ein begnadeter Arzt und Chirurg, er kann auch großartig schreiben. Wie er die Geschichten von Patienten erzählt, wie er sein Ringen mit den großen Fragen des Lebens in Worte fasst, das ist berührend, spannend, tröstlich und herausfordernd zugleich.
W. Lee Warren
Entscheidungen an der Schwelle des Todes; Ein Gehirnchirurg zwischen Glaube, Zweifel und Hoffnung
Francke Verlag 2023, 378 Seiten, 19,00 Euro
Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle
Der Begriff „Leitkultur“ ist wieder öfter zu hören in der Politik, was vielleicht kein gutes Zeichen ist für das Verständnis der Deutschen von ihrer eigenen Kultur, Geschichte und Tradition. Was denn zu dieser Leitkultur gehöre, in die ja Migranten integriert werden sollen, ist wahrscheinlich so umstritten wie noch nie.
Asfa-Wossen Asserate, ein Spross des äthiopischen Kaiserhauses, kam 1968 zum Studium nach Deutschland. Nach dem Militärputsch in seinem Heimatland Äthiopien 1974 wurde er hier zum Staatenlosen; seit 1981 besitzt er den deutschen Pass.
Mit seinem gefeierten Bestseller „Manieren“ gab der mittlerweile 75-jährige Asserate 2003 sein Debüt als Autor. Immer wieder ist er in seinen Büchern der Seelenlage der Deutschen nachgegangen. Mittlerweile, so sagt er es selbst, sei er der Rolle des „teilnehmenden Beobachters“ entwachsen, zu sehr fühle er sich längst „dem Dschungel all dessen, was deutsch ist, mit Haut und Haaren verstrickt“. Aber, so Asserate, in den 55 Jahren, in denen er in Deutschland lebe, habe sich dieses Land so rasant verändert wie wohl niemals in der Geschichte zuvor.
Sein jüngstes Buch „Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle“ mag in all den Krisen, die in diesem Deutschland gerade aufbrechen, fast schon etwas aus der Zeit gefallen wirken. Asserate flaniert in seinem „Vademecum“ entlang alphabetisch geordneter Stichworte durch die Allee deutscher Eigenheiten, Marotten und Klischees. Von A wie Abendbrot über D wie Dienstleistung und L wie Leitz-Ordner bis Z wie Zapfenstreich.
Das kommt leichtfüßig daher, heiter, liebevoll. Und gleichzeitig stutzt man immer wieder, weil Asserate sich den Blick des Fremden im eigenen Land bewahrt hat.
Zum Thema Kaffeetrinken zum Beispiel: In Äthiopien, dem Ursprungsland des Kaffees, ist die Zubereitung des Kaffees ein Ritual, das sich über Stunden hinziehen kann. Wie anders hierzulande: „Der europäische Geist der Effizienz hat dem Kaffee das Zeremonielle ausgetrieben und aus ihm ein Getränk gemacht, das vor allem der Disziplin auf den Sprung helfen soll.“
Auch wenn er das Wort Habseligkeiten unter die Lupe nimmt, wenn er unter dem Stichwort Leitz-Ordner die Vorzüge der Ordnung skizziert oder unter R wie Realpolitik erzählt, wie er sich 16 Jahre lang um die Freilassung seiner Mutter und seiner Geschwister bemühte, die 1974 nach dem Putsch in Äthiopien, bei dem sein Vater ermordet wurde, ins Gefängnis geworfen worden waren. Erst 1990 traf er den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, kurz danach kam seine Familie frei.
Eine unterhaltsame Lektüre, die einen versöhnlichen Ton in den deutschen kulturellen Wirrwarr trägt.
Asfa-Wossen Asserate
Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle. Ein Vademecum; Die andere Bibliothek
Aufbau Verlag 2023, 288 Seiten, 26,00 Euro
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