STELLUNGNAHME zum Matic-Bericht | 01.07.2021


STELLUNGNAHME
zum "Matic-Bericht"

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Das Europaparlament hat am 24. Juni 2021 dem Bericht zur "Lage im Hinblick auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte in der EU im Zusammenhang mit der Gesundheit von Frauen" mehrheitlich zugestimmt. Der Bericht forderte unter anderem ein Recht auf Abtreibung sowie die Aufgabe des Gewissensvorbehaltes bei Abtreibungen. Bischof Hans-Jörg Voigt D.D., leitender Geistlicher der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), nimmt zu Inhalten des Berichtes Stellung.

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Das Europaparlament hat am 24. Juni 2021 über den Bericht zur "Lage im Hinblick auf die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte in der EU im Zusammenhang mit der Gesundheit von Frauen" abgestimmt. Der Bericht forderte unter anderem ein Recht auf Abtreibung sowie die Aufgabe des Gewissensvorbehaltes bei Abtreibungen. Mit einer Mehrheit von 378 zu 255 Stimmen und 42 Enthaltungen wurde der Bericht angenommen. Aufgrund des Namens des Berichterstatters, der diesen Bericht vorgelegt hat, des kroatischen Sozialisten Predrag Fred Matic, hat das Dokument den Titel "Matic-Bericht" erhalten.

Mit dieser Stellungnahme mache ich mir eine Analyse zu eigen, die Pfarrer Dr. Gottfried Martens im Gemeindebrief der Dreieinigkeits-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Berlin-Steglitz veröffentlicht hat. Der Verfasser hat dazu seine Zustimmung gegeben.

Ein "Bericht über die Lage" klingt erst einmal nicht sehr aufregend und folgenschwer; doch in Wirklichkeit wird mit diesem Bericht ein Kampf fortgesetzt, der bereits seit mehr als zehn Jahren im Europäischen Parlament tobt: Immer wieder versuchen Befürworterinnen und Befürworter eines uneingeschränkten Rechtes auf Abtreibung, man kann in diesem Fall tatsächlich mit Recht von einer "Lobby" sprechen, das Europäische Parlament dazu zu bewegen, in Resolutionen diesem uneingeschränkten Recht auf Abtreibung zuzustimmen und damit Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben.

Bereits im Februar 2010 hatte das Europäische Parlament der Forderung eines Initiativberichts zugestimmt, einen "ungehinderten Zugang" zur Abtreibung für alle Frauen zu ermöglichen. Eine deutsche Abgeordnete des EU-Parlaments erklärte anschließend, damit sei das "Recht auf Abtreibung" entscheidend gestärkt worden. Während in Deutschland bis jetzt Abtreibung immer noch grundsätzlich strafbar ist, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei bleibt, setzte sich in den letzten Jahren im Europäischen Parlament, aber zugleich auch in der Diskussion in unserem Land die Formulierung des "Rechts auf Abtreibung" durch. 2013 scheiterte dann im Europäischen Parlament ein erster Versuch, in einer Resolution, dem sogenannten "Estrela-Bericht", die Abtreibung zu einem "Menschenrecht" zu erklären. 2015 wurde dann jedoch vom Europäischen Parlament mit einer breiten Mehrheit eben dies beschlossen, dass die Abtreibung ein "Menschenrecht" sei. Nun wird in dem "Matic-Bericht" dieses Thema aufgegriffen, und man versucht, auf der Grundlage des bisher Erreichten weitere Schritte zu gehen, um dem Ziel einer vollkommenen Legalisierung der Abtreibung, der sich keine Ärztinnen, Ärzte und Mitarbeitenden im Gesundheitswesen verweigern können, näherzukommen.

Der Titel des Berichts klingt erst einmal sehr harmlos, und in der Tat findet sich in diesem Bericht auch sehr viel, was man nur unterstützen kann, wenn es um Frauenrechte im Bereich der Sexualität geht - wie beispielsweise die Kritik an der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung. Doch in Wirklichkeit ist dieser Bericht nur eine Art von "Trojanischem Pferd", bei dem es letztlich nur darum geht, beim Aufbau von Druck zugunsten der völligen Freigabe der Abtreibung weiterzukommen. Auch in diesem Bericht merkt man, wie mithilfe von sprachlichen Neuformulierungen ein grundsätzlich neues Denken geschaffen werden soll - eine Vorgehensweise, die uns heutzutage in unserer Gesellschaft an verschiedenen Stellen immer wieder begegnet: Verändere die Sprache, und verändere damit das Denken!

Abtreibung wird auch in diesem "Matic-Bericht" unter dem Stichwort "Sexuelle und reproduktive Gesundheit" behandelt. Dies ist die entscheidende Weichenstellung, die seit einiger Zeit vollzogen wird, dass es sich bei der Abtreibung um eine Maßnahme zur Förderung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit einer Frau handelt. Das ungeborene Kind wird in dem gesamten langen Bericht nur ein einziges Mal erwähnt (wenn Ärzten, denen unterstellt wird, dass sie bestimmte "Gesundheitsdienstleistungen" aus Gewissensgründen ablehnen, verlogener Weise vorgeworfen wird, dass sie damit "die erfolgreiche Behandlung eines Kindes während der Schwangerschaft" behindern würden ...- als ob man sich um dieses Kind ansonsten in der Argumentation des Berichts auch nur die geringsten Gedanken machen würde!), geschweige denn, dass es in irgendeiner Weise als Rechtsperson wahrgenommen würde. Das ungeborene Kind existiert in dem Bericht fast nur als eine Form der Einschränkung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit einer Frau, vergleichbar etwa mit einem Tumor. Von diesem Denkansatz her ergeben sich alle weiteren Forderungen und Schlussfolgerungen in dem Bericht gleichsam von selbst: Wenn eine Schwangerschaft als Erkrankung behandelt wird, dann ist es natürlich ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf Gesundheit, wenn auf irgendwelchen Wegen die Beendigung dieser Erkrankung gehindert oder eingeschränkt wird. Entsprechend wird in dem Bericht jegliche Einschränkung des Zugangs zu einer Abtreibung als Menschenrechtsverletzung behandelt. Und natürlich ist eine Einschränkung des Zugangs zu einer Abtreibung zugleich auch eine diskriminierende Maßnahme gegenüber Frauen - und stellt auch insofern eine Menschenrechtsverletzung dar. Bezeichnend ist, dass sich der Bericht auf ein "Rückschrittsverbot" bei der weltweiten Durchsetzung von Menschenrechten beruft. Von dieser Formulierung her wird das Vorgehen dieses Berichtes verständlicher: Es geht darum, Schritt für Schritt "Geländegewinne" zu erzielen, die anschließend nicht mehr in Frage gestellt werden dürfen.

Was diesen "Matic-Bericht" besonders macht, ist dies, dass er die "Hindernisse" auf dem Weg zur Durchsetzung seiner Forderungen klar benennt und gleichzeitig sehr unumwunden beschreibt, wie man diese Hindernisse in Zukunft zu umgehen hofft: Das eine Hindernis ist das sogenannte "Subsidiaritätsprinzip": Das heißt: Fragen der Gesundheitsversorgung und damit auch der Abtreibung fallen in den Zuständigkeitsbereich der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten und können gerade nicht zentral vom EU-Parlament entschieden werden. Genau dies ist den Verfassern dieses Berichts natürlich ein besonderes Ärgernis, erst recht, wenn in Mitgliedsländern der EU auch noch Verschärfungen des Abtreibungsrechts beschlossen werden. Doch der Bericht gibt an dieser Stelle nicht auf. Er versucht, einen moralischen Druck auf die einzelnen Mitgliedsstaaten aufzubauen, dass sie ihre bisherigen Gesetze und ihr bisheriges Handeln verändern.

So fordert der Bericht "die Mitgliedsstaaten nachdrücklich auf, Abtreibungen zu entkriminalisieren und Hindernisse für legale Abtreibungen zu beseitigen", ja, "ihre nationalen Rechtsvorschriften über Abtreibung zu überprüfen und sie mit den internationalen Menschenrechtsstandards und den bewährten regionalen Verfahren in Einklang zu bringen". Dies richtet sich auch gegen die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, in deren Strafgesetzbuch es in § 218 nach wie vor heißt: "Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." Natürlich werden im Weiteren dann Bedingungen benannt, unter denen die Abtreibung straffrei bleibt. Doch für den "Matic-Bericht" stellt dieser § 218 eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar. Darüber hinaus kritisiert der Bericht weitere Hindernisse für den Zugang zu Abtreibungen - wie etwa das Vorliegen "begrenzter Zeiträume und Gründe für den Zugang zur Abtreibung" (dass also, wie in der deutschen Gesetzgebung, Abtreibungen in der Regel nur bis zum 3. Schwangerschaftsmonat erlaubt und an bestimmte Indikationen gebunden sind), die "Beratungspflicht" (ebenfalls in der deutschen Gesetzgebung verankert) oder auch "irreführende Informationen" (das sind alle Informationen, die darauf hindeuten könnten, dass bei einer Abtreibung das Leben eines Menschen beendet wird). Der Bericht beklagt zwar "die fehlende Verfügbarkeit wissenschaftlich genauer und evidenzbasierter Informationen", die das Recht des Einzelnen verletze, doch möchte der Bericht offenkundig selbst entscheiden, welche Informationen denn nun "wissenschaftlich genau" sind und welche "irreführend": Alle wissenschaftlichen Informationen, die nicht der Ideologie seiner Verfasserinnen und Verfasser entsprechen, sind natürlich "irreführend".

Der Druck auf die einzelnen Mitgliedsstaaten lässt sich zum einen moralisch aufbauen, indem die Annahme des Berichts als Argumentationshilfe für entsprechende nationale Beschlüsse dient, zum anderen aber auch dadurch, dass eine fehlende Kooperation auf dem Gebiet der "sexuellen und reproduktiven Gesundheit" recht unverhohlen auch Konsequenzen für die Verteilung von EU-Hilfsgeldern im Bereich der Gesundheitsversorgung haben soll. Darüber hinaus weist der Bericht auch sehr eindrücklich auf die Möglichkeiten hin, die die EU im Bereich der Außenpolitik hat, wo sie sowohl auf politischer Ebene als auch durch die Vergabe von Fördergeldern ihre Haltung zum Thema "sexuelle und reproduktive Gesundheit" ärmeren Staaten aufdrücken kann: Finanzielle Unterstützung nur im Gegenzug zu einer genehmen Abtreibungsgesetzgebung. Man erschrickt schon, wie unverhohlen diese Strategie in dem Bericht beschrieben wird.

Das andere Hindernis, das die Verfasser des "Matic-Berichts" besonders erbost, ist die Gewissensbindung von Ärzten und medizinischem Personal, das sich aus Gewissensbindung weigert, Abtreibungen durchzuführen. Man beginnt im Bericht zunächst noch sehr zurückhaltend, indem man anerkennt, "dass sich einzelne Ärzte aus persönlichen Gründen auf eine Gewissensklausel berufen können". Doch danach werden dann Schritt für Schritt die Daumenschrauben angesetzt: Der Bericht

- "betont, dass eine Gewissensklausel für Einzelpersonen nicht das Recht eines Patienten auf vollständigen Zugang zu medizinischer Versorgung und zu Gesundheitsdienstleistungen beeinträchtigen darf, fordert die Mitgliedstaaten und Gesundheitsdienstleister auf, solche Umstände im Hinblick auf die geografischen Aspekte bei der Erbringung ihrer Gesundheitsdienstleistungen zu berücksichtigen";

- "bedauert, dass es gelegentlich in den Mitgliedstaaten gängige Praxis ist, dass Ärzte und manchmal ganze medizinische Einrichtungen Gesundheitsdienstleistungen auf Basis einer sogenannten Gewissensklausel ablehnen, was dazu führt, dass die Betreuung eines Schwangerschaftsabbruchs aus religiösen oder Gewissensgründen verweigert wird, wodurch das Leben und die Rechte der Frauen gefährdet werden;

- stellt fest, dass diese Klausel häufig in Situationen genutzt wird, in denen jede Verzögerung das Leben oder die Gesundheit der Patienten gefährden kann" (eine wirklich heftige Unterstellung, die eine Schwangerschaft wieder allgemein als Gesundheitsgefährdung für die Frau betrachtet)

- "fordert die Mitgliedstaaten auf, wirksame Regulierungs- und Durchsetzungsmaßnahmen zu ergreifen, mit denen sichergestellt wird, dass durch die ,Gewissensklausel' der rechtzeitige Zugang von Frauen zur Gesundheitsversorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit nicht gefährdet ist".

Und dann lässt der Bericht in der Begründung für seine Forderungen die Katze endgültig aus dem Sack: Er klagt: Es "können Angehörige der Gesundheitsberufe häufig die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen verweigern, wenn sie moralische Bedenken haben, zum Beispiel bei der Durchführung von Abtreibungen oder der Verschreibung und dem Verkauf von Verhütungsmethoden oder einer Beratung, indem sie sich weigern, an einer Handlung teilzunehmen, die ihrer Meinung nach mit ihren religiösen, moralischen, philosophischen oder ethischen Überzeugungen unvereinbar ist. In Zukunft sollte sie als Verweigerung der medizinischen Versorgung und nicht als sogenannte Verweigerung aus Gewissensgründen behandelt werden." Allerspätestens an dieser Stelle wird dieser Bericht für uns Christinnen und Christen unmittelbar relevant: Der Bericht fordert, dass jegliche Weigerung von medizinischem Personal, bedingungslos eine Abtreibung zu vollziehen oder bei ihr mitzuwirken, als strafbare Handlung, eben als Verweigerung der medizinischen Versorgung, gewertet werden soll. Wenn das Gewissen nicht so funktioniert, wie dies der Bericht wünscht, dann muss dieses Gewissen eben zur Not auch mit Gewalt gebrochen werden.

Dass in diesem Zusammenhang noch einmal beklagt wird "Frauen haben keinen Zugang zu ihrem gesetzlich gewährten Abtreibungsrecht", spricht für sich. Schaut man sich die namentlichen Abstimmungen in den zuständigen Ausschüssen zu dem "Matic-Bericht" an, stellt man fest, dass die beiden deutschen Vertreterinnen, beide von der CDU, dem "Matic-Bericht" mit seinen Forderungen der grundsätzlichen Freigabe von Abtreibungen ohne Beratungspflicht und der Kriminalisierung von Ärzten und Pflegepersonal, die sich weigern, Abtreibungen durchzuführen, ausdrücklich zugestimmt haben. Man sollte sich in dieser Frage keine politischen Illusionen machen. Die Europäische Volkspartei (EVP), zu der die CDU gehört, hat mittlerweile eine Verhandlungsführerin zu diesem Bericht benannt, die sich zuvor sehr engagiert für eine massive Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Irland eingesetzt hatte.

All dies ist Ausdruck einer höchst bedenklichen Ideologisierung des Themas "Abtreibung", das mittlerweile offenbar auch im Parlament nur noch als Thema rechter osteuropäischer Parteien wahrgenommen wird. Wer es noch wagen sollte, sich für die Achtung der Gewissensbindung von medizinischem Fachpersonal in der Frage der Abtreibung einzusetzen, wird damit gleich in eine bestimmte Schublade gesteckt - und um das zu vermeiden, stimmten selbst "gemäßigte" Politikerinnen lieber für eine radikale Befürwortung von Abtreibungen, als dass sie sich auch nur in der Nähe dieser anderen Parteien sehen möchten.

Pfarrer Dr. Martens hat ähnliches schon erfahren, als er vor vier Jahren von einer Parlamentariergruppe ins Europaparlament in Straßburg eingeladen worden war, um dort über die Probleme konvertierter christlicher Geflüchteter zu berichten. Auch dies galt damals, wie Martens meint, offenbar schon als ein "rechtes" Thema, sodass zu dem Treffen fast nur EVP-Abgeordnete aus den osteuropäischen Ländern kamen, jedoch niemand aus Deutschland. Wir erleben es in ähnlicher Weise hier in Deutschland, dass versucht wird, das Thema "Lebensschutz" als ein "rechtes" Thema zu brandmarken. Dass es diese Vermischung von rechter politischer Agenda und Ablehnung von Abtreibungen gibt, kann dabei allerdings leider nicht geleugnet werden.

Der "Matic-Bericht" spricht mit Recht das Problem an, dass bei der Ablehnung von Abtreibung immer wieder auch das "nationale Interesse" oder der demographische Wandel instrumentalisiert werden. Mit solch einer Argumentation könnte man dann auch die Abtreibung durch Frauen, die nicht der eigenen Nation angehören, gutheißen und sich nur gegen die Abtreibung von Kindern der "eigenen Nationalität" einsetzen. Dass dieses Denken naheliegt, zeigt sich eben auch daran, dass viele derer, die sich sehr vehement gegen Abtreibungen aussprechen, gleichzeitig wenig Interesse am Lebensrecht bereits geborener Menschen zeigen, wenn diese nicht der eigenen Nation angehören. Eine menschenverachtende Haltung gegenüber Flüchtlingen und eine Ablehnung von Abtreibungen gehen leider auch hier in Deutschland oftmals Hand in Hand.

Dem "Matic-Bericht" ist Recht zu geben, wenn er darauf verweist, dass ein Abtreibungsverbot oder die Erschwerung von Abtreibungen in den betreffenden Ländern in aller Regel nicht zu einem Sinken der Abtreibungszahlen führt. Allein mit einem Verbot von Abtreibungen schützt man noch nicht das Leben ungeborener Kinder. Dies wird leider in der Diskussion oftmals übersehen. Der beste Schutz für das Leben ungeborener Kinder ist und bleibt eine Sozialpolitik, die Mütter und ganz besonders auch alleinerziehende Mütter unterstützt und ihnen damit die Gelegenheit gibt, "Ja" zu ihrem noch ungeborenen Kind sagen zu können. Wer sich laut gegen Abtreibungen ausspricht, aber zugleich Mütter in ihren ganz praktischen Schwierigkeiten nicht unterstützt, sondern Politik auf Kosten der Schwächsten in der Gesellschaft macht, der soll nicht behaupten, sich für den "Lebensschutz" einsetzen zu wollen. Es ist dringend nötig, die Frage der Abtreibung wieder zu entideologisieren. Natürlich ist es nicht hinzunehmen, wenn in Diskussionen um die Abtreibung das Lebensrecht des ungeborenen Kindes überhaupt keine Rolle spielt und es zu einer Art von Tumor degradiert wird. Natürlich ist es nicht hinzunehmen, wenn Abtreibung zu einem "Menschenrecht" hochstilisiert wird. Und erst recht ist es nicht hinzunehmen, dass der Gewissensschutz von Ärzten und medizinischem Personal in Frage gestellt wird und sie dazu gezwungen werden sollen, an der Tötung ungeborener Kinder mitzuwirken. Aber glaubwürdig wird eine solche Haltung nur, wenn sie verbunden ist mit einem Einsatz für das Lebensrecht aller Menschen, gerade auch der Geflüchteten, und mit einem Einsatz für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Schwächsten in unserer Gesellschaft.

Glaubwürdig wird diese Position des Einsatzes für das Lebensrecht aller Menschen aus meiner Sicht gerade von der römisch-katholischen Kirche vertreten, die eine sehr gute und ausgewogene Stellungnahme zu dem "Matic-Bericht" veröffentlicht hat, die genau die Punkte anspricht, auf die auch ich an dieser Stelle hingewiesen habe. Vonseiten der evangelischen Kirchen ist in dieser Frage leider überhaupt keine Stellungnahme zu erwarten, obwohl der Angriff auf die Gewissensfreiheit des medizinischen Personals ja auch viele evangelische Krankenhäuser betrifft.

Die nun erfolgte Annahme des Berichtes hat wegen des Subsidiaritätsprinzips keine unmittelbaren Auswirkungen auf die deutsche Gesetzgebung. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Solche Beschlüsse werden mittelfristig ihre Wirkung auch auf die politischen Entscheidungen hier in Deutschland nicht verfehlen. Viele "Brandmauern" sind in der Zwischenzeit schon längst eingerissen, und es wird wohl in der Tat nur noch eine Frage der Zeit sein, bis der Gewissensschutz für medizinisches Fachpersonal hier in Deutschland unter Druck geraten und eingeschränkt werden wird. Es ist wichtig, dass wir als Kirchglieder dies ganz nüchtern wahrnehmen und uns darauf einstellen, wie wir als Christinnen und Christen uns in dieser hochideologisierten Gesellschaft verhalten können. Mögen wir lernen, in der richtigen Weise unsere Stimme als Anwälte eines umfassenden Lebensschutzes für alle Menschen, ganz gleich ob geboren oder ungeboren, zu erheben! Ja, möge dies tatsächlich in der Zukunft immer mehr ein Markenzeichen der christlichen Minderheit in unserer Gesellschaft werden!

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Eine Stellungnahme von selk_news [01.07.2021]
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