Die Kirche(n) und ihre Angst vor der Zukunft | 05.11.2022

Die Kirche(n) und ihre Angst vor der Zukunft
SELK: Manfred Holst referierte in Balhorn


Bad Emstal-Balhorn, 5.11.2022 - selk - Am 29. Oktober fand in den Räumen der Gemeinde Balhorn der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) im Hybrid-Verfahren ein Seminar zum Thema "Ängste der Kirche" statt. Es stand in einer Veranstaltungsreihe des Wilhelm-Löhe-Seminars des in der SELK beheimateten Diakonissenwerks Korbach.

Der Referent Manfred Holst (Marburg), Propst der Kirchenregion Süd der SELK, Diplom-Supervisor für soziale Berufe und Mediator, führte durch das Thema.

Der Referent spannte einen Bogen von Paulus und den ersten Christen über Luther bis in die Gegenwart. Er warf viele Fragen auf, zum Beispiel: "Wie gehe ich um mit den vielen negativen Schlagzeilen und Nachrichten, die ich jeden Tag höre?" Hier erwähnte er Kriege, die belastete Umwelt und die Ungewissheit der Zukunft.

Ängste entstünden oft, wenn man eine Situation nicht überblicken oder nicht mehr kontrollieren könne oder wenn eine Situation oder eine Prognose bedrohlich erscheine. Und so sei es mehr als verständlich, dass die Menschen vor der Zukunft Ängste oder andere Symptome entwickelten.

"Wir leben in einer postmodernen Risikogesellschaft, welche Werte prägen uns und welche verändern sich rasant?", fragte der Referent. Auch die Frage nach der Frauenordination, die in der SELK in ihrer Grundordnung ausgeschlossen ist, werde kontrovers diskutiert und führe zum Teil zu Polarisierungen. So stehen die Kirchen und ebenso die SELK vor vielfältigen Debatten und strittigen Themen, in denen es immer auch um die Zukunft der Kirche gehe. Im Jahre 2021 beschäftigte sich zum Beispiel der Dies Academicus an der Lutherischen Theologischen Hochschule der SELK in Oberursel mit dem Thema "Morgen Kirche sein", bei dem unterschiedliche Perspektiven zur Sprache gebracht wurden. Die Literatur zum Thema sei immens und zeige eine große Spannbreite der Zukunftsprognosen. Dabei liegen Angst und zugleich Hoffnung oft nah beieinander, so der Referent.

In dem Vortrag beschränkte sich Holst auf zwei Themenbereiche, die in den Kirchen Ängste entstehen lassen. So entfaltete er zunächst das Thema "Glaubensinhalte in der Zukunft?" und im Anschluss daran das Thema "Leere Kirchenbänke - was tun?"

Holst begann mit der Wahrnehmung, dass der Gott der Bibel und Jesus Christus nicht mehr gefragt seien. Hier zog der Referent eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2018 heran, in der Junge Menschen im Alter zwischen 19 und 27 Jahren nach ihrem Glauben gefragt wurden. Darin heiße es: "Glaube wird oft sehr individuell und nutzenorientiert interpretiert." Glaube sei ein Mittel, leichter durchs Leben zu kommen.

Der Glaube an Gott sei nicht einfach verlorengegangen, sondern habe sich verändert in einen Glauben mit einer unklaren inhaltlichen Substanz. Glaube sei gut, weil er Halt gebe und einen Rahmen für das eigene Verhalten aufzeige. Aber Glaubensinhalte und -wissen hätten ihre Bedeutung verloren. Diese Beobachtungen, die die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland präsentiere, seien vermutlich ebenso zum Teil in der jungen Generation der SELK wiederzufinden.

Man könne in dieser Situation in Sorge verfallen und sich ausmalen, wie es mit dem Glauben der Kirche weitergehe. Man könne nach Schuldigen suchen. Aber man könne darin auch eine Chance sehen, sich genauer mit den Gedanken und den Vorstellungen dieser Zeit auseinanderzusetzen und zu versuchen, sprachfähig zu bleiben. Holst weiter: Es komme darauf an, Brücken zu bauen zu den Menschen, die heute leben, Brücken zu bauen zu dem, was Menschen heute bewege und zu ihren Erfahrungen. Menschliche Freude und Leid fänden im christlichen Glauben eine Aufnahme und zugleich eine Orientierung. Es komme darauf an, sich dem Dialog zu stellen, zuzuhören, sprachfähig zu werden, eigene Überzeugungen zu formulieren, ohne andere Überzeugungen abzuwerten.

Wer Menschen vom christlichen Glauben erzählen wolle, tue gut daran, ihre Sprache und ihre Kultur zu erlernen, mit ihnen zu leben und zu arbeiten. Oft brauche es erst eine Vertrauensbasis zueinander, ehe Fragen nach dem Halt im Leben und nach Glauben aufkämen. Es brauche eine Haltung vom Evangelium weiterzusagen, ohne dabei Menschen an sich anpassen zu wollen, aber mit dem Mut, "gemeinsam neue Wege" zu gehen.

Dies gelte für hauptamtlich Tätige und für alle Christinnen und Christen. Das hieße mit Interesse Anteil zu nehmen an dem, was gerade geschehe und diskutiert werde.

Im zweiten Teil des Referates beleuchtete Holst die Angst vor leeren Kirchen. Diese Angst finde sich in fast in allen Gesprächen, die er in Gemeinden führe. Es gebe in vielen Kirchen eine Mitgliederkrise. Sterbefälle würden nicht mehr durch die Zahl der Taufen ausgeglichen. So entstehe folgerichtig eine Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterkrise. Aufgrund der wenigen hauptamtlichen Pfarrer geschehe fast alles in der Gemeinde im Ehrenamt. Dazu brauche es jedoch kompetente und bereitwillige Gemeindeglieder, die sich in den Dienst nehmen ließen. Aber diese zu finden sei je länger je mehr schwieriger, führte der Referent aus. Das führe dazu, dass die bisherigen Mitarbeitenden und die Pfarrer über ihre Grenzen beansprucht würden, weil alles getan und organisiert sein müsse, damit das kirchliche Leben nicht stillstehe.

Die hier angesprochenen Themen seien so vielfältig und miteinander verwoben, dass es kaum möglich sei, alles zugleich zu sehen und anzugehen.

Es brauche Schwerpunkte und Entscheidungen in den Gemeinden, an welchen Themen weitergedacht und gearbeitet werden solle. Es brauche Zeiten, in denen sich diejenigen, die daran Freude und den Willen haben, etwas zu bewirken, zusammensetzen und ihren Weg in die Zukunft anschauen und planen könnten.

Für eine Gemeinde sei ein Treffen nach dem Gottesdienst mit einem Thema optimal, für eine andere Gemeinde vielleicht ein Bibelabend mit Gespräch. Das sei für jede Gemeinde individuell. Die Kirche habe nicht deshalb überlebt, weil ihre formalen und institutionellen Strukturen so gut wären, sondern sie würde "von Beziehungen ihrer Glieder untereinander und zu Gott getragen und erhalten."

Der Gedanke, den Menschen nachzugehen und sie zu gewinnen zu suchen, weil die Gemeinde aufrichtiges Interesse an den Menschen hat, bleibe gültig, erklärte Holst. Gemeinde sei besuchende Gemeinde

Umfangreich und interessant berichtete Holst auch über das Ehrenamt. Ehrenamtliche Mitarbeit brauche Offenheit und Freiheit hinsichtlich des Umfangs und der Zeit. Ehrenamtliche Mitarbeit sei nicht zu verstehen als Lückenbüßer, sondern nehme das allgemeine Priestertum der Glaubenden ernst. Wer geistliche Aufgaben, Leitung von Gemeindekreisen und seelsorgerliche Tätigkeiten allein dem Pfarrer zubillige, so der Referent, verliere seines Erachtens den reformatorischen Ansatz, dass auch alle Christinnen und Christen beauftragt seien, das Evangelium weiterzugeben und Menschen zu begleiten. In den Briefen des Apostels Paulus sei die Rede von den vielfältigen Gnadengaben in der Gemeinde.

Es könne vieles Angst machen, führte der Referent aus. Kirchen würden auf einen Personalengpass zugehen. Es gebe Entwidmungen von Kirchen, die auch in der SELK zu erwarten seien. Darum brauche es auch Raum für Trauer.

Holst sei es wichtig, sich bittend der Leitung des Geistes Gottes zu unterstellen und sich für sein Kommen zu öffnen. Das hieße auch, warten zu können. Gott zu vertrauen könne auch bedeuten, nicht sofort in einen neuen Aktionismus zu starten, sondern es Gott zuzutrauen, dass neues Leben entstehe. Ebenso sei es von Bedeutung, sich nicht auf den Mangel zu fixieren. Die Beschreibung eines Defizits schaffe eine Stimmung und eine Dynamik der Sorge und Resignation. Im Klima der Sorge wachse auch die Lähmung, mahnte der Referent.

Wir seien mehr als unsere Angst, nämlich Christeninnen und Christen, die nicht alleingelassen sind. Gottes Geist wirke und werde die Kirche erhalten. Vielleicht ganz anders als heute. Aber sie werde ein Ort sein, an dem der Glaube wohnen könne, so Manfred Holst.

In einem letzten Gedanken entfaltete der Referent einen Aspekt, der von Fulbert Steffensky so formuliert wurde: "Das Reich Gottes ist auf unsere Mitarbeit angewiesen, aber es steht und fällt nicht mit ihr. Auf Gott hoffen heißt aber auch auf mehr zu hoffen als auf die eigenen Kräfte. Es ist die große Lebenserleichterung, nicht für die Welt einstehen zu müssen und ihr Garant sein zu müssen. Ich vermute, wenn wir auf diese Weise an der Welt arbeiteten und an Gott glaubten, dann wäre unsere Arbeit in einem tiefen Sinn gewaltlos. Wir würden mit mehr Zeit rechnen als wir selber haben. Gott steht für das Ganze, nicht wir." (Wo der Glaube wohnen kann, Stuttgart 1989, 60).

Dem Referat schloss sich eine lebhafte Aussprache an.

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