Predigthören
Die Kunst des Predigthörens
Eine Predigt entsteht nicht nur am Schreibtisch des Pfarrers. Sie entsteht vor allem auch im Kopf des Zuhörers. Dr. Christoph Barnbrock, Professor für Praktische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Oberursel, hat sich in einem Buch dem Predigthören gewidmet. Für SELK.de hat er sich als Interviewpartner zur Verfügung gestellt.
Sie haben ein Buch* über das Predigthören geschrieben, unter anderem mit Anregungen für ein „aktives Zuhören“, für eine „wohlwollende, erwartungsvolle Hörhaltung“. Kann man das Predigthören lernen?
Barnbrock: Ja, sicher! Warum sollte man es auch nicht können? Wir haben uns einfach nur an den Gedanken gewöhnt, dass das Predigthören einfach so funktioniert. Aber mir scheint, hier lässt sich weit mehr entdecken, wenn ich mich auf Impulse zum Predigthören einlasse. Überhaupt rede ich lieber vom „Entdecken“ als vom „Lernen“. Lernen klingt für viele so sehr nach Optimierung mit anschließender Abschlussprüfung. Ich möchte das Predigthören lieber mit einem Spaziergang durch die Natur vergleichen, wo es viel mehr zu entdecken gibt, als ich jemals wahrnehmen kann. Und wie bei einem Gang durch die Natur kann es mir auch beim Predigthören eine Hilfe sein, wenn mir jemand für dieses oder jenes die Augen öffnet.
Wenn die Kirche kritisiert wird, steht die Predigt zuvorderst am Pranger. Es ist oft sogar von einer regelrechten „Predigtkrise“ die Rede. Sie erwarten dagegen einen „Vertrauensvorschuss“ dem Predigenden gegenüber, damit Hören und Verstehen gelingen kann. Ist die allgemeine Predigtkritik also unangemessen?
Barnbrock: Allgemeine Kritik halte ich in den meisten Fällen für wenig hilfreich, weil sie im Normalfall nicht dazu beiträgt, dass es zu einer Verständigung kommt oder sich etwas zum Guten ändert. Allgemeine Kritik bedient allzu oft auch Klischees. Ich bin tatsächlich davon überzeugt, dass ohne gegenseitiges Vertrauen Kommunikation nicht gelingt. Das kann jeder bei sich im Alltag beobachten. Menschen, mit denen man sich nicht gut versteht, begegnet man oft mit Skepsis. Und das führt dann häufig zu Missverständnissen. Das ist in der Predigt nicht anders. Das bedeutet aber andererseits nicht, dass jede Form von Predigtkritik falsch wäre. Ganz im Gegenteil. Gerade wenn ich das, was der Prediger sagt, ernst nehme, komme ich vielleicht auch zu kritischen Nachfragen. Und nach evangelischem Verständnis ist solch ein mündiges Predigthören gerade die Aufgabe der Gemeinde. Aber Predigtkritik sollte meinem Verständnis nach liebevoll, konstruktiv und möglichst im direkten Gespräch mit dem Prediger erfolgen.
Wenn die Predigten so oft kritisiert werden – zeugt das nicht gerade von einer großen Erwartung, die zu oft enttäuscht wird? Sie selbst schreiben, von einer Predigt sei tatsächlich Großes zu erwarten: ein verwandeltes Leben, eine Begegnung mit Gott.
Barnbrock: Dass hinter der Predigtkritik enttäuschte Erwartungen stehen, kann in vielen Fällen durchaus zutreffen. Aber ich denke, es ist nicht der einzige Grund. Genauso kann es eine bequeme Ausrede sein, um mich mit dem, was in einer Predigt manchmal auch sperrig ist, nicht auseinandersetzen zu müssen. Dann schiebe ich als Predigthörer den Schwarzen Peter zum Prediger rüber und bin fein raus. Mir scheint es grundsätzlich eher so zu sein, dass wir Christen in unserem Land eher zu wenig als zu viel von Gottes Handeln (und eben auch von Gottes Handeln durch die Predigt) erwarten.
Am häufigsten wird ja die Sprache der Predigt und die Konventionalität kritisiert. Es ist zu oft vorhersehbar, was gesagt wird. Das führt dazu, dass die Leute abschalten, weil sie sich nicht angesprochen fühlen oder sich langweilen. Sie schreiben, der Eindruck, eine Predigt habe mir nichts zu sagen, könne auch darin wurzeln, dass ich mich in meinen Grundannahmen über das Leben nicht irritieren lassen möchte. Ist das nicht zu einfach, den Spieß quasi umzudrehen?
Barnbrock: Zu einfach ist es, glaube ich, nicht. Sondern es vervollständigt das Bild. Die Krise der Predigt kann ihren Grund an verschiedenen Stellen haben: sowohl beim Prediger als auch beim Hörer oder auch in der Gesamtsituation, in der beide miteinander verbunden sind. Natürlich gibt es auch schlechte Predigten – zum Beispiel, weil sie vorhersehbar sind und nicht erkennbar ist, wie die biblische Botschaft in neuen Worten für unsere Zeit ausgesagt wird. Ich wünsche mir auch, dass Prediger lebenslang auf der Suche bleiben nach neuen Gedanken, nach neuen Bildern und Formen, um das Evangelium unter die Leute zu bringen. Allerdings hat mich meine eigene Predigtpraxis auch Demut gelehrt. Manchmal ist nach einer vollen Arbeitswoche der Kreativitätstank auch leer. Da lohnt es sich auch als Predigthörer sich daran zu erinnern, dass man zu Hause auch nicht jeden Tag ein Fünf-Gänge-Menü auf den Tisch zaubert, sondern es manchmal auch ganz schlicht Brot, Butter und Käse oder Wurst gibt.
Pfarrer werden relativ selten direkt mit Kritik an ihren Predigten konfrontiert. Würden Sie sich mehr Feedback wünschen?
Barnbrock: Auf jeden Fall! Für mich war das ein schmerzhafter Verlust, als ich nach dem Vikariat auf die Rückmeldungen meines Vikarsmentors auf meine Predigten verzichten musste. Besonders dankbar war und bin ich deswegen für alle Rückmeldungen zu meinen Predigten – gerade für solche, die über eine allgemeine Aussage („Danke für die schöne Predigt!“) hinausgehen. Das hilft mir wahrzunehmen, wo ich mit meinen Predigten vielleicht auch auf unbeabsichtigte Widerstände gestoßen bin oder Menschen besonders gut mitgehen konnten. Das hilft für das „Handwerk“, das das Predigen nicht nur, aber auch ist. Schön ist es natürlich, wenn Kritik freundlich und liebevoll geäußert wird, weil in jeder Predigt ja sehr viel Herzblut und viel von meiner eigenen Person steckt. Entsprechend verletzlich bin ich dann auch an dieser Stelle.
Pfarrer gelten gemeinhin als nicht sehr gute Predigthörer, sie bewerten die Predigten der Kollegen häufig kritischer als der Rest der Gottesdienstgemeinde. Sind Sie selbst nach der Arbeit an Ihrem Buch nun ein besserer Predigthörer?
Barnbrock: Dafür müsste ich erst einmal klären, was einen „guten“ Predigthörer ausmacht. Aber ja, ich glaube, dass ich neue Zugänge zum Predigthören gewonnen habe. Und das erlebe ich als Bereicherung. Dankbar bin ich vor allem dafür, dass ich es gelernt habe, zwischen einem kritisch-analytischen Zugang zu Predigten, den ich für meine Arbeit an der Hochschule brauche, und einem gottesdienstlichen Zugang relativ gut hin- und herwechseln kann. Ich habe für mich gelernt: Wenn ich in einer Predigt nur darauf lauere, ob ich etwas kritisieren kann, dann finde ich auch etwas. Aber das führt dann meistens dazu, dass ich von der Predigt für meinen Glauben wenig habe. Heute verstehe ich mein gottesdienstliches Predigthören eher wie das Goldschürfen. Manches an Sand fällt durch das Sieb. Aber das macht nichts, solange auch Goldklumpen darin liegen bleiben. Und das erlebe ich in großer Regelmäßigkeit. So bin ich dankbar für die Amtsbrüder und Kollegen, unter deren Kanzeln ich sitzen darf.
*Christoph Barnbrock: Hörbuch. Eine Entdeckungsreise für Predigthörerinnen und Predigthörer;
Edition Ruprecht 2016, 19,90 Euro.