Schatz und Acker
Zum Verhältnis von Judentum und Kirche
In einer Betrachtung zum 10. Sonntag nach Trinitatis im evangelischen Kirchenjahr, dem sogenannten „Israel-Sonntag“ gibt der leitende Geistliche der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Bischof Hans-Jörg Voigt D.D. (Hannover) Anteil an einer biblischen Neuentdeckung zu Jesu Gleichnis: „Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker.“ (Matthäusevangelium, Kapitel 13, Vers 44)
Am 10. Sonntag nach Trinitatis denkt die Kirche über das Verhältnis zwischen Judentum und Kirche nach. Neulich machte mich ein Freund auf eine für mich völlig neue Auslegung des kurzen Gleichnisses Jesu vom Schatz im Acker aufmerksam. Solche Momente sind nicht so häufig, dass man einen völlig neuen Gedanken hört, der unmittelbar überzeugt und bisherige Auffassungen an die Seite treten lässt: Könnte es sein, dass Jesus mit seiner Beispielgeschichte nicht auf unseren ungeteilten Einsatz für das Himmelreich zielt, sondern dass er vielmehr von seinem Vater im Himmel spricht?
Gott findet mit seinem Volk Israel einen Schatz im Acker. Er liebt sein Volk durch die Jahrhunderte. Er will sein Volk Israel auf ewig erlösen und in seiner Liebe halten. Also „verkauft“ er alles, was er hat, seinen geliebten Sohn Jesus Christus. Er opfert ihn am Kreuz in den Tod, um sein Volk Israel freizukaufen und zu erwerben. Und weil es nicht anders geht, kauft er den ganzen Acker – nämlich die ganze Welt – gleich mit.
Hannah Arendt, die jüdische Denkerin aus Hannover, arbeitet in ihrem Lebenswerk heraus, dass eine totalitäre Diktatur mit ihrem Terror entweder ganz oder gar nicht herrscht. Als Michael Gorbatschow 1985 unter dem Stichwort „Glasnost“ auch die Pressefreiheit einführte, diskutierten wir in unserem Leipziger Studentenkreis, dass dies nach Hannah Arendt notwendig das Ende des Sowjetimperiums bedeuten müsse.
Während ich diese Zeilen schreibe kann man dieses Phänomen in Weißrussland hochaktuell studieren: Entweder Lukaschenko, der letzte Diktator Europas, herrscht ganz und unterdrückt alle brutal oder er wird in wenigen Monaten von der Bühne der Geschichte verschwunden sein. Die chinesische Diktatur hat mich vor diesem Hintergrund mit der Behauptung „Ein Land, zwei Systeme“ lange Zeit irritiert. Seit kurzem hat Hannah Arendt auch in China wieder recht: Entweder China herrscht im ganzen Land, auch in Honkong, oder es wird bald aus sein mit der roten Diktatur.
Zurück zum Gleichnis vom Schatz im Acker: Die Diktatur der Unfreiheit von Sünde, Tod und Teufel herrscht entweder auf der ganzen Erde oder gar nicht. Um sein Volk Israel von dieser Diktatur zu retten, hat Gott gleich die ganze Welt durch Jesus Christus mit befreit. Anders ging es nicht, denn die göttliche Freiheit in Christus ist grenzenlos. Gott kauft den ganzen „Acker“ dieser Welt gleich mit und befreit uns als Nichtjuden gleich mit vom Totalitarismus der Sünde, des Teufels und des Todes. Dass es auch in Bezug auf die durch Jesus Christus geschenkte Freiheit zu viele Menschen gibt, die noch am „alten System“ hängen, schmälert diese Erlösung nicht.
Dem entspricht, was der Apostel Paulus der Gemeinde in Rom über das Schicksal des Gottesvolkes schreibt: „Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (Römerbrief, Kapitel 11, Verse 29–32).
Also wird die Erlösung auch das Volk Israel noch erreichen. Wie Gott das macht, wissen wir nicht. Dass er den „Kaufpreis“ für diesen „Schatz“ mit seinem Sohn Jesus Christus schon bezahlt hat, daran ist kein Zweifel. Also sind wir bis dahin dem Volk Israel das Glaubenszeugnis von Jesus Christus schuldig: mit Hochachtung und Respekt, denn sie sind der eigentliche Schatz, das auserwählte Volk, mit tiefer Demut vor dem Hintergrund unserer deutschen Geschichte und mit Klarheit.
© Gemälde: Rembrandt/Gerard Dou - Yelkrokoyade - wikimedia.org