Bischöfliches Schreiben zum Buß- und Bettag 2025


Der leitende Geistliche der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Bischof Hans-Jörg Voigt D.D., wendet sich in einem "Bischöflichen Schreiben zum Buß- und Bettag 2025" an die Gemeindeglieder der SELK. In seinem Schreiben spricht er eine Buß-Praxis aus der Vergangenheit der Vorgängerkirchen der SELK an. Frauen, die unehelich schwanger geworden waren, leisteten vor der versammelten Gemeinde "Abbitte". Die Väter der Kinder waren davon sehr viel seltener betroffen. Zudem geschah solche Abbitte in einer für Frauen zutiefst verunsicherten Situation, in der sie ihre sich verändernden Lebensumstände zu bewältigen hatten. Voigt schreibt: " Aus meiner Sicht besteht das größte Problem der damaligen Abbitte-Praxis darin, dass das Bemühen um seelsorgerliche Wahrhaftigkeit werdende Mütter zum falschen Zeitpunkt traf, nämlich in einer Zeit tiefer Verunsicherung im Angesicht des ungeborenen Lebens." Für diese Praxis wolle er sich im Namen seiner Kirche entschuldigen, in einem Sinn historischer Schuldverantwortung.


Bischof


Liebe Brüder und Schwestern in Jesus Christus,

mit diesem Bischöflichen Schreiben wende ich mich an Sie und euch als Gemeindeglieder der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), um eine Praxis aufzugreifen, die unter dem Begriff der „Abbitte“ oder „Kirchenzucht“ zusammengefasst wird. Damit möchte ich zu Gespräch und Austausch über diese Thematik einladen. Die 14. Kirchensynode der SELK hat im Jahr 2019 eine Synodale Arbeitsgruppe für Anliegen von Frauen in der SELK eingerichtet. Dabei wurde unter anderem auch die kirchliche Praxis benannt, dass überwiegend unverheiratete schwangere Frauen zumeist öffentlich vor der Gemeinde oder dem Kirchenvorstand „Abbitte“ tun mussten. Diese Praxis, die in den Vorgängerkirchen der SELK bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeübt wurde, möchte ich hier ansprechen.

Ein solches öffentliches Geschehen wurde zuallermeist als beschämend erlebt und hat sich teilweise auch in das „Langzeitgedächtnis“ von Familien eingebrannt. Auch in meiner Familie gibt es solch eine Erinnerung. Allein die Tatsache solcher generationenübergreifenden Erinnerungen macht deutlich, welches Gewicht dieses Thema haben kann.

Um Vergebung bitten
Im Namen der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche bitte ich betroffene Personen und deren Familien um Vergebung: Diese Vergebungsbitte bezieht sich auf ein kirchliches Handeln zum Thema „Abbitte“, das das Gute bezweckte, jedoch zu oft etwas anderes als das Bezweckte bewirkte und häufig mit einer Ungleichbehandlung von Frauen und Männern und wohl auch von Menschen aus oberen und unteren gesellschaftlichen Schichten einherging. Hierauf ist noch genauer einzugehen. Wenn ich hier um Vergebung bitte, dann tue ich das in einem Sinn, der theologisch unterscheidet zwischen unserer eigenen persönlichen Schuld, für die wir Gott heute um Vergebung bitten und einer Verantwortung für Schuld, die in der Vergangenheit geschah. Ich tue dies, weil ich diesen Verantwortungszusammenhang bejahe. Unsere heutige Generation lebt vom Segen und der Arbeit vorausgehender Generationen, was zum Beispiel beim Gebrauch von Kirchen deutlich wird, die in der Vergangenheit oft unter großen Opfern errichtet wurden. Deshalb sind wir nicht nur für die segensvollen Hinterlassenschaften der Väter und Mütter verantwortlich, sondern sind auch in einen Verantwortungszusammenhang eingebunden, der sich aus vergangener Schuld ergibt.

Demut gegenüber vorangegangenen Generationen
Es wäre zu leicht, um Vergebung für Schuldzusammenhänge in der Vergangenheit zu bitten, ohne zugleich in Demut und im Wissen um die eigene Irrtumsfähigkeit verstehen zu wollen, welche geistlichen Anliegen sich mit der hier angesprochenen Praxis der „Abbitte“ damals verbanden.

Zentrales Anliegen dieser teilweise auch in den Gottesdienstbüchern (Agenden) geregelten „Abbitte oder Kirchenzucht“ war die Reintegration in die christliche Gemeinde nach einer in der Öffentlichkeit von Kirche und Gesellschaft bekannt gewordenen Schuld. Dabei ist in diesen Formularen von ganz unterschiedlicher öffentlicher Schuld die Rede. Die Kirchenzucht schließt Menschen, die ihre Schuld nicht bereuen, aus Gemeinde und Kirche bis zur Schuldeinsicht aus. Die Abbitte hingegen bezeichnet das öffentliche Schuldeingeständnis und den Vergebungszuspruch vor der Gemeinde. Zudem standen die Worte Jesu aus Matthäus 19 im Hintergrund, denen man gerecht werden wollte: „Jesus aber antwortete und sprach: Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang schuf als Mann und Frau und sprach: »Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seiner Frau hängen, und die zwei werden ein Fleisch sein«? So sind sie nun nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Was nun Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden!“ Dass Jesus Christus dies auch mit Blick auf die Zeugung von Kindern sagt, erschließt sich aus der Tatsache, dass unmittelbar auf diesen Abschnitt folgt: „Lasst die Kinder zu mir kommen …“

Ungleichbehandlung
Leider aber blieb es sehr häufig dabei, dass unverheiratet schwanger gewordene Frauen Abbitte taten, um Wiederaufnahme in die Gemeinde zu erfahren. Die unverheirateten (oder auch verheirateten) Männer wurden häufig jedoch nicht bekannt. Nur gelegentlich taten auch Männer Abbitte. Eine solche Ungleichbehandlung bedarf der Vergebung. Zudem fokussierte sich die Praxis der Kirchenzucht in den Gemeinden auf uneheliche Schwangerschaften. Die in den Agenden genannten anderen öffentlichen Sünden wurden sehr viel seltener in der Praxis der Kirchenzucht behandelt. Auch diese Art der Ungleichbehandlung ist vergebungsbedürftig. Auch wenn es dazu kaum gesicherte historische Erkenntnisse gibt, muss davon ausgegangen werden, dass eine solche Form der Kirchenzucht sehr viel häufiger Menschen aus ärmeren Verhältnissen traf, als aus vermögenderen Gesellschaftsschichten, da deren Einfluss in Gemeinde und Kirche größer war. Dennoch wäre auch hierin eine geistliche Ungerechtigkeit zu sehen.

Die Vulnerabilität der Mütter
Aus meiner Sicht besteht das größte Problem der damaligen Abbitte-Praxis darin, dass das Bemühen um seelsorgerliche Wahrhaftigkeit werdende Mütter zum falschen Zeitpunkt traf, nämlich in einer Zeit tiefer Verunsicherung im Angesicht des ungeborenen Lebens. In solchen Situationen gerät die Zukunftsplanung ins Wanken. Zudem war in vergangenen Jahrzehnten eine ungewollte Schwangerschaft mit massiver wirtschaftlicher Unsicherheit verbunden. Frauen befanden sich in einer ausgesprochen verwundbaren Situation, in der sie zunächst vielmehr Unterstützung, Ermutigung und Begleitung gebraucht hätten. Die Verletzungen, die damaliges Bemühen um seelsorgerliche Klarheit in vielen Fällen ausgelöst hat und die in den Familien weiter erinnert werden, liegen meines Erachtens vor allem in dieser Vulnerabilität der werdenden Mütter. Das seelsorgerliche Bemühen um Kirchenzucht und Abbitte wurde wohl zumeist von zu wenig Mitgefühl für die existenziellen Nöte einer ungewollten Schwangerschaft begleitet. Das ist vergebungsbedürftig.

Schuld nicht verschweigen
„Denn als ich es wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein tägliches Klagen“, heißt es in Psalm 32. Schuld beim Namen zu nennen, wird durch das unermessliche Versöhnungswerk Christ möglich. Das gilt für die hier angesprochenen schuldhaften Zusammenhänge durch das Handeln der Kirche, das gilt aber auch für eine öffentliche Schuld, welcher Art auch immer. Es gehört zu solcher Wahrhaftigkeit, dass dies in Fällen einer außerehelichen Schwangerschaft in den meisten Fällen auch damit zu tun hat, dass zwei Menschen das 6. Gebot übertreten haben, und damit vor Gott, aneinander und an der Kirchgemeinde schuldig geworden sind. Es wird womöglich auch Fälle gegeben haben, in denen ein Mann ein Abhängigkeitsverhältnis einer jungen Frau ausgenutzt hat. Solche Fälle sind hier ausdrücklich gesondert zu nennen, da Frauen in solcher Situation im doppelten Sinn Opfer wurden. Es ging bei beim Bemühen um Kirchenzucht nicht um einen übersteigerten Tugendwahn, sondern um ein Ernstnehmen der zerstörerischen Macht der Sünde. Es hat jedoch zum Verlust einer lutherischen Kirchenzuchtpraxis beigetragen, dass es zuallermeist nur um das 6. Gebot ging. Dass Theologen wie Dietrich Bonhoeffer oder Rudolf Bohren sich im 20. Jahrhundert um eine Rückgewinnung der Kirchenzucht gemüht haben, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

Seelsorge und Beichte
Im 20. und 21. Jahrhundert haben Individualisierungsprozesse stattgefunden, die ein Verständnis für die gemeinschaftszerstörende Wirkung von Schuld erschweren. Deshalb ist der gewiesene Weg, mit mehr oder weniger offenbarer Schuld umzugehen, das seelsorgerliche Einzelgespräch, das zur Einzelbeichte führen kann. Wilhelm Löhe hat schon im 19. Jahrhundert weitsichtig in diese Richtung gewiesen, wenn er sagt, die Gemeinde solle „ohne Namensnennung“ ermahnt werden, den öffentlichen Sünder, der Vergebung erfahren hat, ins Gebet zu nehmen.

Christus allein
Vor dem Richterstuhl Christi werden wir alle offenbar werden. Daran erinnert uns der Buß- und Bettag. Vor Christus werde ich nicht viel Gutes vorzubringen haben. Wenn ich mir vorstelle, wie Jesus Christus selbst das 5. oder 6. Gebot in der Bergpredigt auslegt, dann habe ich keine Chance: „wer aber zu seinem Bruder sagt: … Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig.“ Und Christus spricht weiter: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ Diese Worte Jesu, die natürlich für Frauen in gleicher Weise gelten, verdeutlichen die grundsätzliche Verlorenheit der Mensch vor der Gerechtigkeit Gottes.

Mit ein bisschen äußerlicher bürgerlicher Tugendhaftigkeit kann ich da nicht bestehen. Es braucht eine andere Gerechtigkeit, eine fremde Gerechtigkeit, die mir durch den Opfertod Jesu Christi zugeeignet wird. Der Apostel Paulus schreibt deshalb eindringlich: „Denn es ist hier kein Unterschied: Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ Christian Gregor dichtet im bekannten Kirchenlied: „Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, damit will ich vor Gott bestehn, wenn ich zum Himmel werd eingehn. Drum soll auch dieses Blut allein mein Trost und meine Hoffnung sein. Ich bau im Leben und im Tod allein auf Jesu Wunden rot.“ Amen.

So grüße ich die Gemeinden und Gemeindeglieder unserer Kirche zum Buß- und Bettag in Verbundenheit des Glaubens und Bekennens sehr herzlich,

Hannover, zum Buß- und Bettag, 19. November 2025
Bischof Hans-Jörg Voigt D.D.

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