Seit 25 Jahren Rektor in Guben

 
Seit 25 Jahren leitet Pfarrer Stefan Süß als Rektor das Naëmi-Wilke-Stift in Guben, eine Einrichtung, die zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) gehört. Im Interview blickt er auf die 25 Jahre zurück.

Stefan Süß

Seit 25 Jahren sind Sie Rektor des Naëmi-Wilke-Stifts. Mit welchen Gefühlen haben Sie am 1. September 1991 Ihren Dienst angetreten, können Sie sich daran erinnern?

Süß: Das weiß ich noch sehr genau. Ich war 37 Jahre alt, verheiratet und wir hatten drei kleine Kinder. Hinter uns lagen sieben Jahre Gemeindepfarramt in Gotha und vor uns unbekanntes Land. Ich fühlte mich absolut unsicher. Von einer Kirchgemeinde in ein wirtschaftliches Unternehmen der Kirche zu wechseln ohne Vorbildung zu einem Zeitpunkt, wo sich alle gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen fast monatlich änderten nach der deutschen Wiedervereinigung – das war naiv. Ich stand vor einer Aufgabe und in einer Rolle, von denen ich nicht wirklich wusste, was sie beinhalteten. Mein Amtsvorgänger, der mich vielleicht in diese Aufgabe hätte einführen können, war im gleichen Jahr vor meinem Dienstbeginn gestorben.
Als der Möbelwagen ausgeladen war und zurück nach Gotha fuhr, kamen wir uns am neuen Ort als Familie sehr einsam vor und fremd.
Am 1. September 1991 hatte ich dann meinen ersten Arbeitstag, richtete mein Büro ein und fand in meinen Vorstandskollegen, Herrn Hans-Dieter Dill als Verwaltungsdirektor und Herrn Wilfried Junker als Technischem Leiter, zwei kompetente und verlässliche Partner in ihren jeweiligen Fachbereichen vor, die mich auf das Abenteuer mitgenommen haben. Eine Einarbeitung in die Rolle als Pfarrer im Unternehmen und Vorstandsvorsitzenden konnten sie jedoch nicht leisten.
Wir sind als Familie dahingegangen, weil die gemeinsame Kirchenleitung (aus SELK und Evangelisch-lutherischer [altlutherischer] Kirche [ELAK]) mich für diese Aufgabe für geeignet hielt. Wir sind dem Ruf der Kirchenleitung gefolgt.

Prägend in Ihrer Zeit als Rektor war sicherlich vor allem der Neubau des Krankenhauses. Wie hat sich Ihr Aufgabenfeld in den Jahren verändert?

Süß: Die erste große Herausforderung war die Fusion des Krankenhauses im Naëmi-Wilke-Stift mit dem ehemaligen Kreiskrankenhaus in Guben. Der Kreistag hatte dazu Ende 1990 die Weichen gestellt und die Fusion zum 1. Januar 1992 beschlossen. Wie macht man das praktisch? Was ist hier rechtlich und menschlich zu ordnen? Was bedeutete das, dass das Naëmi-Wilke-Stift in seiner Belegschaft verdoppelt werden würde, und was hieß das für die Zusammenführung der beiden divergierenden Kulturen: ein DDR-geführtes Kreiskrankenhaus und eine kirchliche Stiftung in der Diakonissenmutterhaustradition nach 40 Jahren politischer Gegensätze? Würde es wirtschaftlich funktionieren?
Es ist gelungen. Diese Fusion war politisch gewollt und sie war richtig. Sie war auch die Grundlage für die Investitionsplanungen des Landes Brandenburg für diesen Krankanhausstandort. Auch das ist aufgegangen. Etappenweise ist von 1998 bis Ende 2011 ein komplett neues Krankenhaus entstanden.

Daneben konnten die Geschäftsfelder der Stiftung erweitert werden im Bereich der Jugendhilfe:1992 wurde eine Erziehungs- und Familienberatungsstelle eröffnet. Der vorhandene Kindergarten wurde ebenfalls schrittweise erweitert von 40 Plätzen damals auf heute über 100. Wir sind eingestiegen in das Feld der ambulanten Pflege mit der Eröffnung einer Diakonie-Sozialstation, die heute mehr als 100 Menschen täglich versorgt. Wir konnten eine Schule für Gesundheits- und Krankenpfleghilfe eröffnen mit heute 40 Ausbildungsplätzen eröffnen.
2004 erwarb die Stiftung mit der Medizinischen Einrichtungsgesellschaft ambulante Arztpraxen und damit ein Tochterunternehmen mit heute knapp 70 Beschäftigten.
Insgesamt beschäftigen wir heute ca. 400 Menschen in drei verschiedenen Gesellschaften und damit mehr als doppelt so viel wie 1991.

Zugleich fielen in diese Jahre auch die weniger erfreulichen Aufgaben. Wir mussten Betriebsbereiche schließen. So hatte das Land Brandenburg die Schließung des stiftseigenen Altenpflegheims 1995 angeordnet, da sie die Einrichtung nicht für rekonstruktionsfähig ansah. Später mussten im Krankenhaus der Bereich Gynäkologie / Geburtshilfe 2000 geschlossen werden und 2011 auch die Pädiatrie, weil sie aus der Landesplanung gestrichen worden waren für unseren Standort. Das waren schwierige Prozesse, die zu begleiten waren.

Das alles hat auch meine Aufgabenfelder verändert. Der Schwerpunkt liegt inhaltlich in der Verantwortung für den Jugendhilfebereich der Stiftung, die komplette Öffentlichkeitsarbeit und die kirchlich-diakonische Ausrichtung der Stiftung.
Manche Aufgaben haben sich reduziert wie die Begleitung der Diakonissen, die nach und nach starben oder auch die Mitwirkungsmöglichkeiten in der Ortsgemeinde und in der Gesamtkirche. Die wachsenden Aufgaben in der Stiftung haben nicht zugleich zu mehr Personalressourcen im Vorstand geführt.

Welches sind heute die besonderen Herausforderungen für ein kirchliches Krankenhaus bzw. eine diakonische Einrichtung? Wie kommt dabei das christliche Leitbild zum Tragen?

Süß: Wir sind im Süden Brandenburgs das einzige kirchliche Krankenhaus. Qualifizierte medizinische Versorgung gilt als selbstverständlich und unterscheidet uns nicht wirklich auf dem Gesundheitsmarkt von andern. Unser Alleinstellungsmerkmal ist unsere Zugehörigkeit zur Kirche.
Mit diesen Entwicklungen verbunden war deshalb immer die Überarbeitung der Konzepte und der Ausbau der kirchlichen Angebote. Andachten für Mitarbeitende und Patienten, Besuche bei Patienten am Sonntagmorgen, Gottesdienste im Stift, Kulturangebote jede Woche, Fortbildungen für Mitarbeitende zu den Grundwerten einer kirchlichen Einrichtung, Einführungstage für neue Mitarbeitende zweimal jährlich, Gestaltung einer Festkultur für Mitarbeitende und immer wieder eine aktive Öffentlichkeitsarbeit u.a. mit dem Auf- und Ausbau von Internet und Intranet.

Die gegenwärtige Herausforderung ist die demografische Verschiebung. In unserem Einzugsbereich leben immer weniger Menschen und die verbleibenden Menschen werden immer älter. Fachkräftefrage, Erweiterung unseres Einzugsbereichs an der deutschen Grenze durch den Ausbau einer deutsch-polnischen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung bei gleichzeitiger Profilierung im medizinischen Können und der apparativen Ausstattung des Krankenhauses, um nur Einiges zu nennen.

Sie sind Pastor - als Rektor des Stifts aber wohl in erster Linie „Manager“ eines mittelständischen Unternehmens: Kommen sich diese Rollen manchmal in die Quere? Oder anders gefragt: Inwiefern war Ihre Ausbildung und Ihre Arbeit als Gemeindepfarrer für Ihr derzeitiges Amt hilfreich, und was mussten Sie sich dafür neu aneignen?

Süß: In der Tat verlangen der Vorstandsvorsitz in der Stiftung und die Arbeit im Vorstand als oberstem Leitungsorgan dieses Unternehmens das, was wir heute Management nennen. Da schadet die akademische Bildung als Theologe nicht, im Gegenteil. Wer mit Menschen in einer Kirchgemeinde arbeitet oder in einem Unternehmen mit vertraglich gebundenen Mitarbeitenden, arbeitet mit Menschen. Hier sind Kompetenzen gefragt, die aus dem Glauben und dem biblischen Menschenbild erwachsen, mit jener Wertschätzung anderen zu begegnen, mit der Gott uns begegnet. Insofern empfinde ich das nicht als Rollenkonflikt, sondern als bereichernde Ergänzung.
Hilfreich war der weite Horizont des Wissens, den ein Theologiestudium vermittelt. Völlig unterbelichtet in meiner theologischen Ausbildung waren allerdings diakonische und soziale Fragestellungen. Im Studium habe ich nichts über die Diakonie erfahren. Diesem Mangel wollte ich für andere begegnen und habe nach einer Anfrage der Kirchenleitung mehr als 10 Jahre in Oberursel Diakonik gelehrt und geprüft. Insofern habe ich mein Arbeitsfeld ab 1991 neu „studieren“ müssen in einem ständigen Prozess von learning by doing.

Wie haben die 25 Jahre im Naëmi-Wilke-Stift Ihren persönlichen Glauben geprägt?

Süß: Im Rückblick kann ich sagen, dass diese Tätigkeit meinen Horizont sehr geweitet und auch meine theologische Schwerpunktsetzung verändert hat. Die Lehre von der Rechtfertigung als Mitte lutherischer Theologie oder die vier soli der Reformation sind nicht mehr nur Lehrgegenstände. Sie müssen ihren Praxistest des Lebens bestehen.
Heute weiß ich besser, dass wir mit der Kirche und ihren Lebensäußerungen in Mission und Diakonie auf jener Spur unterwegs sind, die der menschliche Gott unter uns hinterlassen hat. Ohne Berührungsängste oder Abgrenzungsfragen war und ist er unterwegs zu seinen Menschen. Das große Stichwort der Theologie, das aus der Freiheit der reformatorischen Erkenntnis kommt, ist die Barmherzigkeit, jenes nicht zu fassende Erbarmen Gottes mit uns Menschen. Dies gilt es zu gestalten.

Wenn Sie sich die Entwicklung des Stifts in der Zukunft vorstellen: Welche Wünsche sähen Sie gern realisiert?

Süß: Wünschen würde ich mir, dass die Stiftung sich stabil auch in Zukunft weiter entwickeln kann in inhaltlicher wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Sie sollte auch weiterhin als Einrichtung der Kirche erkennbar bleiben.
Wünschen würde ich mir, dass die verfasste Kirche mit ihren Gemeinden die diakonischen Einrichtungen und die dort Beschäftigten als ihre geistliche Aufgabe wahrnimmt. In einem zunehmend säkularen Land brauchen wir den dringenden Schulterschluss von Kirchgemeinden und diakonischen Unternehmen. Die Gesellschaft sieht uns ohnehin immer nur als eins.

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