Vom Segen der Beichte – Gottes Stimme ganz direkt
Bei der Beichte bekennen Menschen, dass sie schuldig geworden sind. Ihnen wird dann die Vergebung Gottes zugesprochen. Die Beichte findet in den evangelischen Kirchen als „Gemeinsame Beichte“ vor dem Sonntagsgottesdienst oder zu Beginn des Gottesdienstes statt. Vielen Menschen ist diese Praxis fremd geworden. Der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Hans-Jörg Voigt (Hannover), hält das für falsch und setzt sich für eine Wiederentdeckung der Beichte ein.
Was wäre, wenn Gottes Stimme einmal so ganz direkt erschallen würde, laut, unüberhörbar und eindeutig als Gottes Stimme identifizierbar? Wie wäre das, wenn dies einmal ganz klar wäre, dass in der Kirche – ganz außergewöhnlich – Christus selbst spricht? Ich wäre ergriffen, würde auf meine Knie sinken, würde sofort andere hereinrufen: „Hört ihr das auch? Gott spricht heute hier direkt und ganz persönlich!“
Was wäre, wenn? Genau dies geschieht aber in der Beichte. Das Bekenntnis der lutherischen Kirche sagt über den Trost der Vergebung in der Beichte: „Denn es ist nicht die Stimme des vor uns stehenden Menschen oder sein Wort, sondern das Wort Gottes selbst, der hier die Sünde vergibt ... Gott fordert, dem Zuspruch der Vergebung nicht weniger zu glauben, als wenn Gottes Stimme selbst vom Himmel erschallt“ (Augsburger Bekenntnis, Artikel 25). Also: Es geht darum, dass Gottes Stimme sehr direkt erschallt, sozusagen durch das Megafon einer menschlichen Kehle.
Gemeinsame Beichte
Es ist Sonntagmorgen, die Gemeinde versammelt sich vor dem Gottesdienst zur „Gemeinsamen Beichte“. Ich lese die Einsetzungsworte der Beichte: „Unser Herr Jesus Christus spricht zu Petrus: Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein“ (Matthäus 16,19). Und dann aus dem Johannesevangelium (20,22–23): „Zu seinen Jüngern spricht der Herr: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“
Nach einem Bußpsalm halte ich eine kurze Ansprache. Häufig versuche ich dabei, nicht nur an das Unrecht zu erinnern, das wir unseren Mitmenschen getan haben, sondern auch an die Schuld, die wir noch viel schwerer in den Blick bekommen: unsere elende Gottvergessenheit im Alltag und den Unglauben, der in uns immer wieder hochkommt. Das ist die Predigt des hohen Anspruches, den Gott zu Recht an unser Leben hat, das ist die Predigt des Gesetzes. Dem folgt dann eine ergreifende Stille, die von der Aufforderung getragen ist: „Lasst uns in der Stille vor Gott unsere Sünden bekennen.“
Und dann darf ich nach dem lauten gemeinsamen Beichtgebet etwas tun, das zu den wichtigsten Aufgaben eines Pfarrers überhaupt gehört: Ich spreche den Menschen, die nach vorn an die Altarstufen kommen, die Vergebung in Gottes Auftrag zu, indem ich ihnen die Hände einzeln auf den Kopf lege: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Das ist Evangelium pur.
Eine Brücke zur Einzelbeichte
Dieser Ablauf der „Gemeinsamen Beichte“ hat immer wieder auch die Funktion einer Brücke zur Einzelbeichte. Wenn Menschen mich besuchen, um mit mir über eine besondere Lebenssituation zu sprechen, in der sie schuldig geworden sind, dann kann ich anknüpfen an ein vertrautes Geschehen mit Worten wie: „Du hast jetzt über deine Ehesituation und deine Schuld mit mir gesprochen. Wenn du möchtest, kann ich dir die Vergebung Gottes zusprechen …“ Dann geschieht da Einzelbeichte, und immer wieder ist das ein wesentlicher Schritt, dass ein Mensch mit seinem Leben auch äußerlich wieder besser zurechtkommt.
Die Psychologie entdeckt Vergebung
Und sage niemand, dies würde unsere Zeitgenossen nicht mehr interessieren. Die deutschen Gerichte können sich vor Strafanzeigen kaum retten und kommen mit ihrer Arbeit gar nicht nach. Gerechtigkeit und Vergebung waren noch nie so nachgefragt wie heute, und Gott schenkt sie in der Beichte – gratis, um Christi willen, durch den Glauben. Vergebung ist ja das große Beziehungsthema unserer Tage. Man spricht von einer „Wiederentdeckung der Vergebung in der Psychologie“. Die Zeitschrift „Psychologie Heute“ widmete der Frage der Vergebung neulich ein ganzes Heft (9/2019) unter der Überschrift „Die Kraft des Verzeihens – Vergangene Kränkungen vergeben, befreit nach vorne schauen“. Die Vergebung Gottes ist ja geistlich gesehen die wichtigste Voraussetzung, auch dem Mitmenschen die Kränkung, die Verletzung endlich verzeihen zu können. Indem ich mich ganz existenziell von Gott geliebt weiß und seine Liebe mir auf den Kopf zugesprochen wurde, beginnt die Kraft in mir zu wachsen, anderen vergeben zu können.
Beichte: Ist das nicht katholisch?
Wenn irgendeiner diese Frage beantworten kann, ob Beichte nicht ein Markenzeichen der römisch-katholischen Kirche sei, dann doch Martin Luther (1483–1546), der sich mit der damaligen römisch-katholischen Theologie intensiv auseinandergesetzt hat. Originalton Luther: „Wenn tausend und abertausend Welten mein wären, so wollte ich alles lieber verlieren, als das geringste Stück der Beichte aus der Kirche kommen lassen … Denn die Vergebung in der Beichte spricht der Priester an Gottes statt und damit ist sie nichts anderes als Gottes Wort, damit er unser Herz tröstet“ (WA 30.III. Bd., S. 569). Man muss sogar sagen, dass die Reformation ihrem Wesen nach eine Reform der Buß- und Beichtpraxis der damaligen Kirche war. Luther räumt gerade mit den ganzen Missverständnissen der Beichtpraxis um das ausufernde Ablasswesen auf, um die Beichte wieder auf ihren Kern zurückzuführen. Ein anderes großes Bekenntnis der lutherischen Kirche, die „Konkordienformel“, formuliert deshalb so: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass nach Art Heiliger Schrift das Wort ‚rechtfertigen‘ in diesem Artikel heiße ‚absolvieren‘, das ist, von Sünden ledig sprechen.“ Damit wird die Rechtfertigungslehre als geistliche Kernaussage der Reformation ganz auf die Beichte zugespitzt. Deshalb ist es eigentlich tragisch, dass die Beichte in den evangelischen Kirchen so sehr in Vergessenheit geraten ist.
Die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts
Wenn ich über die Beichtpraxis einen Vortrag halte, begegnet mir immer wieder einmal die Frage, was denn der Unterschied zwischen der „Absolution“, also dem Vergebungszuspruch in der Beichte, und der Vaterunser-Bitte „und vergib uns unsere Schuld“ ist. Man kann sich das so vorstellen: Immer wieder muss ich für kirchliche Gäste aus anderen Erdteilen Visa für einen Deutschlandbesuch mit einem Einladungsbrief auf den Weg bringen. Wenn ich dann in der Botschaft anrufe, bekomme ich die Auskunft: Ja, Ihr Brief ist eingegangen. Das Visum ist bewilligt. Aber erst wenn mein Freund das Visum sozusagen mit Stempel und Unterschrift des Botschafters in der Hand hält, hat er Gewissheit.
Gott hat versprochen, die Vergebungsbitte im Vaterunser zu erhören. Daran ist kein Zweifel. Aber der Zuspruch der Vergebung durch einen „Botschafter an Christi statt“ (2. Korinther 5,20) vermag, mir letzte Gewissheit zu geben. Es geht Jesus Christus um letzte Gewissheit, wenn er seinen Jüngern diesen Auftrag zur Sündenvergebung gibt. Der Vergebungszuspruch durch solch einen „Botschafter“ ist nicht weniger als die Vorwegnahme des Jüngsten Gerichts.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Nachrichtenagentur idea | www.idea.de
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