Verwegenes Gottvertrauen und verantwortete Haushalterschaft
Auch wenn die Statistik der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) für das letzte Jahr ein leichtes Plus ihrer Kirchgliederzahl aufweist und damit Anlass zu vorsichtigem Optimismus bietet – weitere Strukturanpassungen in der Kirche werden unumgänglich sein. Mit weniger werdenden Ressourcen verantwortlich umzugehen, heiße nicht, sich mit dem Trend abzufinden, sagte der Geschäftsführende Kirchenrat Michael Schätzel (Hannover) kürzlich anlässlich eines Kirchenvorstehertages in Celle.
Im Oktober werden die verantwortlichen Gremien der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) wieder über den Haushaltsplan und damit über die Anzahl der Pfarrstellen zu beraten haben. Zwar steigen die Einnahmen über die freiwilligen Umlagebeiträge der Kirchglieder an die Allgemeine Kirchenkasse jedes Jahr an, sie decken aber nur noch ca. 91% des SELK-Haushalts. Der Rest muss aus Rücklagen und Sondermitteln finanziert werden, die sich aber längst nicht in dem Umfang „nachbilden“, wie sie gegenwärtig eingesetzt werden. Seit einigen Jahren sind in den Kirchenbezirken Strukturmaßnahmen getroffen worden, um Pfarrstellen einzusparen. Plausibel, bei stetig sinkenden Kirchgliederzahlen. Die neuste Statistik für das Jahr 2015 weist nun erstmals seit dem Beitritt der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche 1991 wieder eine leichte Steigerung der Gesamtgliederzahl aus (um 29 auf 33.203). Der Anstieg verdankt sich wesentlich der missionarisch-katechetischen Arbeit unter Flüchtlingen in der Dreieinigkeits-Gemeinde in Berlin-Steglitz; 286 neue Kirchglieder vermeldete allein die von Pfr. Dr. Gottfried Martens geleitete Berliner Gemeinde.
2015 wurden in der SELK fast genauso viele Erwachsene (255) wie Kinder (269) getauft. Gleichzeitig weist die Statistik im Vergleich der letzten zehn Jahre einen Tiefststand an Austritten und Übertritten in andere Kirchen aus (287 gegenüber 518 im Jahr 2006).
Auch wenn die Zahlen zu vorsichtigem Optimismus Anlass geben – weitere Strukturanpassungen in der Kirche werden unumgänglich sein. Der Geschäftsführende Kirchenrat Michael Schätzel (Hannover) gab kürzlich anlässlich eines Kirchenvorstehertages in Celle Denkanstöße für den nötigen Gesprächsprozess. Etwas provozierend skizzierte er eingangs modellhaft ein Zukunftsszenario: „Vielleicht besteht unsere Zukunft darin, dass wir in der SELK in den Gemeinden gar keine Gemeindepastoren mehr haben werden. Vielleicht haben wir dann nur noch vier zentrale Stützpunkte im Norden, Westen, Süden und Osten – so als kirchliche Bildungsstätte und geistliche Einkehrhäuser mit, sagen wir, je einem Hauptamtlichen und je acht bis zehn Reisepfarrern, die wie Satelliten die Kirchglieder an ihren Orten versorgen. Das wären dann maximal 44 zu bezahlende Geistliche, das müsste doch auch auf Dauer zu machen sein.“
Manchmal müsse man das Undenkbare denken, so Schätzel, um Klarheit zu bekommen über das, was auf dem Spiel steht. Und er mahnte: „Es geht nicht, dass die einen mit verschränkten Armen und allerlei guten Argumenten den Besitzstand wahren und zusehen, wie „die anderen“ durch Kreativität, Engagement und Opfer Veränderungen ermöglichen. Die Aufgaben haben bei jedem einzelnen von uns und in unseren Kirchenvorständen insgesamt ihren Platz.“
Er regte an, in den Kirchenvorständen und Gemeinden zu diskutieren, was denn wäre, wenn:
… wir uns einen Pastor mit einer weiteren Gemeinde / mehreren Gemeinden teilen müssten?
… wir in unserem Pfarrhaus keinen Pastor / keine Pfarrfamilie mehr wohnen haben würden?
… wir unsere Gottesdiensttage und Gottesdienstzeiten ändern müssten?
… wir unsere Unterrichte, Chöre und Kreise nicht mehr nur für uns, sondern in Gemeindeverbünden stattfinden lassen würden?
… wir unser Kirchgebäude und damit unseren Standort aufgeben müssten?
… wir neu oder mehr gottesdienstliche Angebote ohne Pfarrer machen sollten?
„Ja, was wäre dann?“ fragte Schätzel. „Ist dann das Ende unseres persönlichen Luthertums erreicht? Bis hierher und nicht weiter? Oder wird womöglich Undenkbares doch denkbar, weil das, worum es uns als Kirche und verantwortliche Gemeindevertreter geht, nicht anders zu haben sind?“
Mit weniger werdenden Ressourcen verantwortlich umzugehen, heiße nicht, sich mit dem Trend abzufinden, sagte Schätzel. „Vielmehr sind wir nur umso mehr an Gott gewiesen mit unseren Gebeten und dürfen von ihm alles Gute erwarten – auch, dass unsere Bemühungen in Gemeinde, Mission und Diakonie und auf dem Finanzsektor fruchten.“
Er erläuterte konkret die schwieriger werdende Situation für vakante Gemeinden: „Es ist aufgrund der finanziellen Entwicklung und des damit einhergehenden Personalabbaus nicht mehr möglich, alle Stellen zu besetzen. Gelingt dies bei einer, klafft andernorts ein Loch. Dazu kommt, dass der Pool berufbarer Pfarrer eben kleiner geworden ist, dass sich das Wechselverhalten der Pfarrer geändert hat, dass es weniger Bewegung auf dem ‚Berufungsmarkt‘ gibt und dass das Gerangel um Pfarrvikare/Pastoren größer und problematischer geworden ist.“ Man kann das an Zahlen ablesen: Seit 1992 wurden 32 Planstellen gestrichen, „ein erheblicher Abbau von Personal bei im Wesentlichen beibehaltener flächendeckender Präsenz der SELK in unserem Land“, sagte Schätzel. Zum einen wurden Gemeinden mit zwei Pfarrern zu Pfarrbezirken mit einem Pfarrer zusammengelegt, zum Teil hätten Gemeinden mit Doppelpfarrämtern auf eine Pfarrstelle verzichtet.
Der Kirchenrat machte deutlich, dass die Entwicklung immer nur annähernd beschrieben werden könne. Nach menschlicher Sicht der Dinge seien weitere Personaleinsparungen erforderlich, wenn sich das Finanzaufkommen nicht über alles Erwarten steigere. Und gleichzeitig habe die Kirchenleitung – auch angesichts der erwarteten Verruhestandungen – im Blick, dass um Nachwuchs im pastoralen Dienst geworben werden müsse. Und auch Bewerbungen von externen Pastoren müssten in Erwägung gezogen und die Einzelfälle geprüft werden. Und selbstverständlich immer ein Thema sei die Einbindung ehrenamtlicher Kräfte.
Im Zusammenhang mit der Strukturarbeit in der Kirche wies Schätzel auf die rechtlichen Änderungen hin, die die 13. Kirchensynode im vergangenen Jahr beschlossen hatte, und erläuterte das Verfahren der grundsätzlichen Einvernehmenserklärung durch Bezirksbeirat und Kirchenleitung vor einem Berufungsprozess. Er wies darauf hin, dass die Gemeinden der SELK zwar im Rahmen der geltenden Ordnungen weitgehend selbständig, aber keine unabhängigen Gebilde, sondern aneinander gewiesen seien. Das erfordere gesamtkirchliches Bewusstsein, Rücksichtnahme, Verständigung und Solidarität. Schätzel: „Eine „Kirchturmpolitik“, in der eine Gemeinde strukturelle Änderungserfordernisse zwar anerkannt, aber nur jeweils bei anderen verwirklicht sehen möchte, untergräbt das gesamtkirchliche Miteinander und entzieht sich der gemeinsamen Aufgabe, Gesamtkirche zu gestalten.“ Es gehe daher auch in der Gemeinde vor Ort immer auch um kirchliches Profil, um ihre kirchliche Identität.
„Geht es heute angesichts von Entchristlichung und weltanschaulichem Patchwork mehr um kleinste gemeinsame Nenner, bei der sich konfessionelle, also bestimmten Inhalten und einer bestimmten Bekenntnishaltung verschriebene Positionen hintenanstellen müssen? Driftet unsere Kirchlichkeit in ein eher allgemeines Christentum ab? Was wollen wir? Wofür stehen wir? Und mit welchen Konsequenzen?“ Er sei überzeugt, so Kirchenrat Schätzel, dass die SELK nach wie vor ihre unaufgebbare Existenzberechtigung habe – „gerade weil es um die existentiellen Lebensfragen geht, indem wir Alleinstellungsmerkmale bewahren, ohne die ich persönlich nicht leben möchte, was besonders auch die Eindeutigkeit in der Verkündigung angeht, dass Gottes Heil von außerhalb meiner, ohne mein Zutun zu mir kommt, dass der dreieinige Gott selbst meinen Glauben garantiert, dass Taufe, Beichte, Abendmahl und Segen unangefochten als effektive – tatsächlich wirksame – Gottesgeschehnisse praktiziert und wertgeschätzt werden.“ Schätzel hatte sein Referat unter den Titel gestellt: „Kirche und Gemeinde leiten: Verwegenes Gottvertrauen und verantwortete Haushalterschaft“. Es gehöre zu einer solch verantworteten Haushalterschaft, über den sinnvollen Einsatz der weniger werdenden Ressourcen nachzudenken und zu entscheiden, sagte der Referent; das könne auch die Aufgabe von Arbeitsfeldern und Standorten bedeuten. Aber zum Leiten gehöre eben genauso das „verwegene Gottvertrauen“: „Von ihm dürfen wir immerzu alles Gute erwarten, auch in angespannten Zeiten. Dazu gehören auch ein klarer Kopf und ein getrostes Herz.“