Ein unerwarteter Besuch


75 Jahre Kriegsende

Vor 75 Jahren ging der bis dahin schrecklichste aller Weltkriege in Europa zu Ende. Der leitende Geistliche der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Bischof Hans-Jörg Voigt D.D. (Hannover), hat aus diesem Anlass eine persönliche Stellungnahme verfasst.


Bischof Voigt

In Groß Oesingen besteht eine der Heidegemeinden der heutigen Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK): Wenige Monate nach der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht saßen wenige Pfarrer der damaligen Evangelisch-Lutherischen Freikirche zusammen. Man schrieb den 1. November des Jahres 1945. Der Ortspfarrer Martin Hein und Pfarrer Hans Kirsten (damals Hannover) waren unter den Anwesenden. Der bis dahin schrecklichste aller Kriege, der je von deutschem Boden ausgegangen war, war gerade wenige Monate mit einer Niederlage und der Unterzeichnung der Kapitulation zu Ende gegangen.

Die Ratlosigkeit der Pfarrer war mit Händen zu greifen. All überall befanden sich Flüchtlinge auf den Bauernhöfen, in Notunterkünften in den Städten. Noch gab es Lebensmittel vor allem aus Wehrmachtsreserven, aber der Hunger und der erste Nachkriegswinter standen bereits vor der Tür.

BehnkenPlötzlich klopfte es mitten in der Sitzung an die Tür des Bauernhauses, bei Käppels, neben der Kirche. Pfarrer Martin Hein stand auf, um die Tür zu öffnen. Vor der Tür stand ein hagerer, hochgewachsener Mann. Anzug und Hut und nicht zuletzt die Uniform des GI, der die amerikanische Militär-Limousine gefahren hatte, verrieten den US-Amerikaner. Er stellte sich auf Deutsch mit texanischem Akzent als Präses der kirchlich verbundenen Lutherischen Kirche–Missouri Synode (LCMS) vor. „Wie können wir euch helfen? Was können wir für euch und eure Gemeinden tun?“ Sein Name: John William Behnken (1884-1968), er war von 1935 bis 1962 Präses der LCMS. Präses Behnken war damals der erste US-amerikanische Kirchenvertreter, der die Erlaubnis bekam, deutsche Kirchen zu besuchen. Er berichtete nach seiner Reise dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, persönlich.

Die Bewegung dieses Moments lässt sich heute noch nachspüren. Gerade noch hatten die US-amerikanischen Truppen gemeinsam mit ihren Alliierten einen furchtbaren Blutzoll gezahlt, seit sie in der Normandie in Nordfrankreich gelandet waren, um dem Schrecken des Krieges mit Gewalt ein Ende zu breiten. Wenige Wochen später dann die Frage: „Wie können wir euch helfen?“. Das hatten die deutschen Pfarrer nicht erwartet.

Tatsächlich hat dann die LCMS bei Hilfslieferungen und bei Wiederaufbau und Neustrukturierung der selbstständigen lutherischen Bekenntniskirchen in Deutschland erhebliche Hilfe geleistet. Die Gründung der Lutherischen Theologischen Hochschule (LThH) der SELK in Oberursel geschah mit Unterstützung der LCMS. Gemeinden der Missouri–Synode beteiligten sich massiv an der Care-Paket-Aktion, die bald nach Kriegsende in Gang kam. Der 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands ist Anlass, an diese zwischenkirchliche Hilfe mit tiefer Dankbarkeit zu erinnern.

Szenenwechsel: Im Jahr 2018 war ich zu Besuch in einer Londoner lutherischen Gemeinde. Mein Freund, Rev. John Ehlers, hatte mich eingeladen, im Gottesdienst die Predigt zu halten. Nach dem Gottesdienst stellte mich Pfarrer Ehlers einer älteren Dame vor und erklärte mir, dass sie während des Zweiten Weltkrieges Krankenschwester in London gewesen sei, wo sie immer wieder die Opfer der deutschen Bombenangriffe versorgen musste. Sie sagte mir dann: „Sie sind der erste Deutsche, der hier in der Kirche gepredigt hat. Es ist gut, dass unsere Völker und Kirchen so eng verbunden sind.“ Ich werde diese Begegnung niemals vergessen.

Ohne Zweifel war jener 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung, und alles Leid, das auch deutsche Flüchtlinge, Bombenopfer und Soldaten zu erdulden hatten, hat seine Ursache im Beginn jener ideologischen Diktatur und dieses schrecklichen Krieges, nicht in seinem Ausgang.
Damals, im Jahr 1945, stand das Ausmaß des Schreckens und die Ungeheuerlichkeit des Massenmords an den Juden noch nicht als Gesamtbild vor Augen, wenngleich alle gewusst haben, was geschehen ist.

Von dem US-amerikanischen Philosophen spanischer Herkunft George Santayana (1863-1952) stammt der Satz: „Wer aus der Geschichte nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Ob dieser Satz wirklich in jedem Fall stimmt, sei dahingestellt. Aber es muss geradezu als Stärke der deutschen Erinnerungskultur gelten, die Scham der Verbrechen nicht zu verdrängen, sondern wach zu halten.

Der Besuch Präses Behnkens und die Vergebungsbereitschaft der Londoner Krankenschwester sind für mich viel mehr noch ein Zeichen für die Kraft christlicher Versöhnung, die letztlich im Kreuzesopfer Jesu Christi gründet.

 

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