Lesenswert
An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.
Über den Tod
Alle Verharmlosungen und gut gemeinten Sprüche wie „Der Tod gehört zum Leben“ helfen nicht: Der Tod bleibt „die große Zäsur“, die „große Trennung“, die „große Beleidigung“, wie es der amerikanische Pastor und Autor Timothy Keller in seinem jüngsten Buch formuliert. „Der Tod ist abscheulich und beängstigend, grausam und unnormal“, schreibt er gleich zu Beginn, und noch zugespitzter: „Der Tod ist unser großer Feind, mehr als alles andere. Er erhebt seinen Anspruch auf jeden Einzelnen von uns und verfolgt uns unerbittlich all unsere Tage.“
Dafür, dass wir den Tod heute mehr denn je verdrängen, gibt es Gründe, die Keller kurz ausführt: Die Fortschritte der modernen Medizin, die nicht nur die Lebenserwartung von uns Menschen immens gesteigert, sondern das Sterben auch in Krankenhäuser verlagert haben. Gestorben wird meist im Verborgenen; mancher Erwachsene hat noch nie einen Leichnam gesehen.
Einen zweiten Grund sieht Keller in der Forderung des säkularen Zeitalters nach diesseitiger Bedeutung und Erfüllung. Wenn diese Welt alles ist, was es gibt, dann muss Sinn und Bedeutung für unser Leben allein hier zu finden sein. „Was auch immer Ihrem Leben einen Sinn geben soll“, schreibt Keller, „es muss eine Form diesseitigen Glücks, Trosts oder Erfolgs sein. Oder bestenfalls eine Liebesbeziehung.“ Der Tod durchkreuzt aber all diese Dinge; er ist dann das endgültige Ende.
Als weiteren Grund greift der Autor das Gefühl der Bedeutungslosigkeit auf. Wenn der Tod wirklich das Ende ist, dann wird letztlich nichts, was wir tun, eine bleibende Bedeutung haben. Die Angst vor dem Tod wird dadurch nicht kleiner. Auch das Gefühl der Schuld und die Angst vor einem Gericht ist nicht einfach verschwunden, sondern nimmt andere Formen an, wie man leicht an den regelmäßig aufschwappenden moralistischen Empörungswellen ablesen kann.
Anstatt in Angst vor dem Tod zu leben oder ihn zu verdrängen, sollten wir ihn als „geistliches Riechsalz“ betrachten, schreibt Keller, „das uns aus unserem falschen Glauben aufweckt, dass unser Leben ewig so weitergehen würde.“ Gegen die Angst hilft nur einer: der „Vorkämpfer“ Jesus Christus. Das versteht Keller in werbender, wärmender, tröstlicher, glaubwürdiger Art nahe zu bringen. Jesus Christus hat am Kreuz den Tod besiegt.
Nein, der Tod ist nicht einfach ein Teil des natürlichen Kreislaufes. Würde unser Erschrecken und unsere Trauer dann dazu passen? „Der Tod war so nicht gedacht. Er ist unnormal. Er ist kein Freund, er ist nicht richtig. Er gehört nicht wirklich zum Kreislauf des Lebens; er ist das Ende des Lebens“, schreibt Keller und weiter: „Also trauern Sie. Weinen Sie. Die Bibel sagt uns nicht nur, dass wir weinen sollen, sondern, dass wir mit den Weinenden weinen sollen (Römer 12,15). Es gibt eine Menge zu weinen.“
Aber: mit Hoffnung trauern! Und dafür haben wir Christen allen Grund. Diese biblisch begründete Hoffnung macht Keller in seinem Buch groß.
Kurz nachdem das Buch erschienen war, erhielt Timothy Keller die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die deutsche Ausgabe enthält nun als drittes Kapitel einen Artikel, den Keller angesichts der Aussicht auf seinen eigenen nahen Tod geschrieben hat. Ein berührendes Zeugnis des Glaubens, das wirklich trösten kann.
Timothy Keller
Über den Tod. In Sterben und Tod die Hoffnung behalten
Brunnen Verlag 2023, 96 Seiten, 12,- Euro
Das Medaillon
Das Medaillon, das dem Buch den Titel gab, hat Rosa von ihrem Mann Itzhak zur Hochzeit bekommen. Als ihre Tochter Ania zur Welt kommt, ist ihre Welt schon lange bedroht. 1938 ist die jüdische Familie gezwungen, ins Warschauer Ghetto zu ziehen, aber auch dort sind sie von Hunger, Zerstörung und Verfolgung bedroht. Als Itzhak sich nach Litauen durchschlägt, um seine Eltern zu suchen, spitzt sich die Situation so zu, dass Rosa ihre Tochter einer Fremden abgibt, um ihrem Kind das Leben zu retten. Sie teilt das Medaillon in zwei Teile und gibt die eine Hälfte ihrer Tochter mit.
Die Autorin Cathy Gohlke hat wahre Begebenheiten aus dem Zweiten Weltkrieg in eine fiktive Geschichte verwoben. Dass Mütter sich entscheiden mussten, ihre Kinder wegzugeben, weil sie sie sonst mit in den Tod genommen hätten, ist belegt. Genauso wie der Fluchttunnel, den jüdische Häftlinge im litauischen Ponary gruben, als sie gezwungen waren, die Leichen, die die SS erschossen und in Massengräbern geworfen hatten, auszugraben und zu verbrennen. Die Nazis wollten damit verhindern, dass die näher rückenden Russen die Gräueltaten entdecken könnten.
Cathy Gohlke fand Interviews, in denen von einem Mann erzählt wurde, der bei diesem Ausgraben der Leichen auf seine Angehörigen gestoßen sein soll und dabei seine Frau anhand eines Medaillons identifiziert habe, das er ihr am Hochzeitstag geschenkt hatte.
Der Autorin gelingt es ganz wunderbar, diese schier unglaublichen Geschehnisse mit vielen Details und einer einfühlsamen, großartigen Figurengestaltung in eine Geschichte zu gießen, die einen beim Lesen von Anfang bis zum Schluss fesselt.
Cathy Gohlke
Das Medaillon
SCM Hänssler Verlag 2022, 445 Seiten, 23,- Euro
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