Lesenswert


An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.

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Der Fremde aus dem Meer


Cover AlbomEine Luxus-Yacht explodiert weit draußen auf dem Meer, nur zehn Reisende überleben auf einem Rettungsboot. Sie haben wenig Nahrung und Wasser, und kaum Hoffnung auf Rettung. Da ziehen sie einen Mann aus dem Wasser, den niemand kennt. Er trägt keine Schwimmweste, hat keine Schrammen, und er behauptet, „der Herr“ zu sein.

Ja klar, könnte man jetzt denken, Jesus kommt aufs Boot, stillt den Sturm und rettet die Schiffbrüchigen. Wäre es so, müsste man das Buch tatsächlich nicht lesen. Aber der amerikanische Bestseller-Autor Mitch Albom strickt keine simple Jesus-ist-immer-da-Geschichte. Sein Zugang zu Glaubensfragen ist subtil, einfühlsam, unaufdringlich, und immer wieder überraschend.

Im Vordergrund steht die spannende Geschichte der Überlebenden. Geschickt erzählt Albom sie aus unterschiedlichen Perspektiven. Einer der Überlebenden hält das Geschehen in einem Tagebuch fest. So sitzt der Leser quasi mit im Boot. Die Außenperspektive wird durch eingefügte Medienberichte eingenommen sowie durch den Fund des Rettungsbootes und des Tagebuchs ein Jahr nach dem Unglück. Wie diese Ebenen verwoben werden, wie immer wieder unerwartete Wendungen die Spannung erhalten, das ist großartig gemacht.

Und der Herr? Erklärt sich nicht. Er tut wenig und sagt noch weniger. Hat Hunger und trinkt von dem wenigen Wasser, das sie übrighaben. Schafft kein Flugzeug herbei, das sie rettet. Ja, er lässt zu, dass sie sterben, einer nach dem anderen.
Wie kann ein Gott so etwas zulassen? Warum greift er nicht ein, wo er es doch könnte?

Und doch passieren merkwürdige Dinge auf dem Boot. Als sie kein Wasser mehr haben, regnet es, buchstäblich aus heiterem Himmel. Aber eben nur kurz, so dass es für den nächsten Tag reicht. Als eine der Frauen im Sterben liegt und nicht mehr ansprechbar ist, bittet ihr Mann den Herrn eindringlich, dass sie nochmal aufwacht, damit er sich von ihr verabschieden kann. Das geschieht tatsächlich, zur Verwunderung aller anderen.

Ein fesselnder, bezaubernder Roman, der den eigenen Glauben, das eigene Vertrauen in Jesus, den Erretter, anfragt.

Mitch Albom
Der Fremde aus dem Meer oder Die Macht des Glaubens
Allegria Verlag 2023, 317 Seiten, 19,99 Euro




Streitsache Assistierter Suizid

2023 08 Cover Kuehnbaum SchmidtGibt es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben? Das Bundesverfassungsgericht hat dies 2020 in einem Urteil bejaht und damit die Debatte über Sterbehilfe in Deutschland neu entfacht. Denn das postulierte Recht beinhaltet laut Gericht auch die Gewährleistung „bei der Umsetzung der Selbsttötung auf die Hilfe Dritter zurückzugreifen“, und zwar ohne Vorgaben oder Bedingungen, also etwa einer Krankheit. Allein der freie Wille soll Voraussetzung sein.

Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland hatte nach dem Urteil zu vier digitalen Vorträgen eingeladen, die nun in diesem Band abgedruckt sind.

Zunächst führt der Jurist Michael Germann in die Urteilsbegründung des Verfassungsgerichts ein und erläutert dessen Argumentation. Er macht deutlich, dass das Gericht dem Schutz des freien Willens oberste Priorität einräumt. Es setzt nicht bei dem Grundrecht auf Leben an, sondern beim Persönlichkeitsrecht, „ohne die beiden Grundrechte auch nur voneinander abzugrenzen“, so Germann. Nach seinen Ausführungen versteht man, welch paradoxe Aufgabe dem Gesetzgeber damit auferlegt wurde, einerseits zu gewährleisten, dass der „freie Wille zur Selbsttötung“ – und die Hilfe Dritter dabei – gewährleistet ist, und andrerseits zu verhindern, dass der Suizid zur normalen „Hilfe“ am Lebensende wird und damit geschäftsmäßig organisiert.

Wie frei ist denn der menschliche Wille wirklich und was bedeutet das eigentlich: Selbstbestimmung? Dieser Frage geht der Theologe Dietrich Korsch in seinem Beitrag nach und verbindet sie mit der Frage nach dem Gefühl der Sinn-losigkeit bei Sterbewilligen.

Aus der Sicht der Diakonie ordnet Annette Noller, Vorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, das Urteil ein. Während Autonomie und Selbstbestimmung den Menschen als in sich selbst und nach eigenen Maßstäben agierendes Subjekt betrachteten, komme die Ethik der Achtsamkeit zu dem Ergebnis, dass Menschen radikal aufeinander angewiesen sind, schreibt sie. Eindringlich weist sie darauf hin, dass sich für diakonische Einrichtungen, insbesondere Pflegeheime und Hospize, die Frage stellen werde, „ob die Durchführung von geschäftsmäßig geförderten Selbsttötungen zukünftig geduldet, erlaubt oder auch prinzipiell untersagt werden kann.“

Ulrich Körtner schließlich, Ordinarius für Systematische Theologie in Wien, fragt nach dem Beistand im Sterben, theologisch, medizinisch, ethisch, und er blickt dabei auch in angrenzende Länder und in die Ökumene.

Die Beiträge machen deutlich, wie nötig Information und Sachkenntnis in der Diskussion sind, denn das Thema Sterbehilfe ist zu komplex, als dass es sich für ein Pro und Contra eignet.

Kristina Kühnbaum-Schmidt (Hrsg.)
Streitsache Assistierter Suizid. Perspektiven christlichen Handelns
Evangelische Verlagsanstalt 2022, 128 Seiten, 19,00 Euro



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