Lesenswert


An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.

Lesenswert



Ich war doch noch ein Junge


Cover BrallierAls polnischer, jüdischer Junge wurde Mitka, vermutlich 1939, in ein ukrainisches Internat gebracht. Was mit seinen Eltern passierte, hat er nie erfahren. Er entkam der Hinrichtung durch die anrückenden Nazis, weil er beschloss, aus der Schule zu fliehen. Allein, durch den Wald und über Felder. Er erlebte Massenerschießungen – und überlebte, unter Leichen begraben. Er wurde zwischen Erwachsenen in Viehwaggons gepfercht und in Konzentrationslager deportiert. Er sah die Folterungen, die Leichenberge. Er überlebte.

Später kam Mitka in das Lager Pfaffenwald bei Rothenburg an der Fulda. Auch als Achtzigjähriger kann er nicht erzählen, was er dort gesehen hat. Von Gustav Dörr, einem Nazi, wurde er aus dem Lager geholt, als Kinderarbeiter auf seinem Hof. Mitka heißt jetzt Martin, und ihm wird als Geburtsdatum der 14.12.1932 zugewiesen – damit er das vorgeschriebene Mindestalter für Zwangsarbeiter von zehn Jahren dokumentieren konnte.

Sieben Jahre dauerte das Martyrium Mitkas auf dem Dörr’schen Hof. Er wurde gehalten wie ein Stück Vieh, ja schlimmer, er wurde geschlagen und erniedrigt - und er hatte immer Hunger. Trotzdem: In all den Jahren lief er nicht weg. „Wo hätte ich hingehen sollen?“ sagt er und dass er es ja nicht anders kannte.

Eines Tages hört Mitka, versteckt in einer Kammer des Hauses, eine Stimme zu ihm sagen: „Am Ende findest du dein Ziel“. Noch heute ist Mitka gerührt, wenn er von diesem Erlebnis erzählt, das ihm Kraft gab durchzuhalten. Er ist überzeugt, dass Gott damals zu ihm gesprochen hat und ihm dieses Versprechen gab.

Bis Mitka, der als Kind so unglaubliche Schrecken erlebt hat, seine Geschichte erzählen konnte, hat es lange gedauert. Er kam nach Amerika, seinem „gelobten“ Land, das er aus dem Kino kannte, er heiratete, er fand Arbeit, er bekam Kinder. Endlich hatte er eine Familie, nach der er sich immer so gesehnt hatte. Ein ganz normales, scheinbar perfektes Leben.

Über seine Kindheit redete er nie. Aber die Schatten seiner Vergangenheit holten ihn irgendwann ein. Nach Jahrzehnten des Schweigens konnte er seiner Frau Adrienne nach und nach erzählen, was er als Junge erlebt hatte. Und endlich, mit ihrer Hilfe, machte er sich auf, nach seinen Wurzeln zu suchen, nach seiner Familie und nach seiner Identität als Jude.

Das Autorenteam hat mit Mitka und Adrienne zusammen die Stationen seiner Kindheit sorgfältig recherchiert und erzählt sein Leben in diesem Buch emphatisch, respektvoll, fesselnd. Sehr beeindruckend!

Steven W. Braillier u.a.
Ich war doch noch ein Junge. Ein Holocaustüberlebender versöhnt sich mit seiner Vergangenheit
SCM Hänssler Verlag 2023, 382 Seiten, 25,00 Euro



Papierkinder

Cover KröhnAls Emma und Mathilde im Armenhaus in Berlin-Steglitz ein Neugeborenes vor dem sicheren Tod retten, schweißt das die beiden Mädchen zusammen. Und auch wenn ihre Freundschaft im Lauf ihres Lebens Belastungen ausgesetzt ist: Es eint sie die Überzeugung, dass Kinder beschützt werden müssen – im 19. Jahrhundert kein selbstverständlicher Gedanke. Armut, Hunger und Kälte zwingen viele Familien, die Kinder früh zum Mitverdienen einzubeziehen. Auch Mathilde kann nicht verhindern, dass ihr Sohn Ludwig durch Austragen von Brötchen und Zeitungen und andere Hilfsarbeiten zum kärglichen Einkommen beiträgt. Als er seiner kleinen Schwester Ida den schweren Wagen mit gewaschener Kleidung, die sie austragen soll, abnimmt, verunfallt er und stirbt. Die Schuldgefühle drücken Mathilde derart nieder, dass sie beinahe daran zerbricht. Ihr Mann ist dem Alkohol verfallen, und so ist Mathilde auf sich allein gestellt. Als eine begüterte Frau, die keine Kinder bekommen kann, Mathildes jüngstes Kind Marianne zu sich nehmen will, bleibt Mathilde nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie kann ihre Kinder nicht mehr versorgen. Vor Scham bricht sie in dieser Zeit den Kontakt zu Emma ab.

Emmas Leidenschaft sind Gedichte, im Schreiben sieht sie ihre eigentliche Berufung, aber das wird eher mit Unverständnis gesehen. Und auch ihr politisches Engagement für die Rechte von Frauen und Kindern weckt nicht überall Zustimmung. Aber Emma hat zu viel Leid und Not gesehen – in den Armenhäusern, in den Kinderheimen, in den Fabriken und den Arbeiterfamilien. Sie kämpft dafür, dass sich das ändert. Und in diesem Kampf finden schließlich auch die Freundinnen Emma und Mathilde wieder zusammen.

Der Autorin Julia Kröhn haben für ihren Roman drei historische Frauenfiguren als Vorlage gedient: Emma Döltz, Clara Grundwald und Eglantyne Jebb. Alle drei setzten sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Rechte von Kindern ein. Vermutlich sind sie sich nie begegnet. Aber Julia Kröhn gelingt es großartig, das Engagement der drei Frauen mit einer anrührenden Familiengeschichte zu verweben und so den Roman zu einem packenden Zeugnis jener Zeit zu machen.

Julia Kröhn
Papierkinder
Blanvalet Verlag 2023, 558 Seiten, 24,00 Euro



Weitere Buchtipps finden Sie im Archiv.

© 2024 | SELBSTÄNDIGE EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHE (SELK)