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An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.
Über den Trost
„Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ So eindringlich fleht die Christenheit im Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“ um Trost. So sehr brauchen wir Menschen diesen Trost, immer schon und auch und gerade in dieser Zeit. Wo bleibst du, wahrer Trost, der nicht nur vertröstet, nicht verharmlost und nicht beschwichtigt?
Zwei Bücher fragen danach, was Trost überhaupt ist. Was tröstet wirklich, wenn Leben beschädigt, gedemütigt oder sogar ausgelöscht wurde?
Der Schriftsteller und Theologe Reiner Strunk sucht darauf Antworten anhand von Beispielen in der Bibel, in Literatur, Philosophie und Kunst. Seine kluge und tiefgründige Analyse findet ein überzeugendes Fazit: „Das Geheimnis des Trostes und seiner Wirksamkeit ist die Aussicht auf Verwandlung“. Nicht das sich Abfinden mit dem Unabänderlichen tröstet, nicht das Beschwichtigen, nicht gut gemeinte Ratschläge zur Ablenkung. Wahrer Trost „muss das Erschrecken konterkarieren mit begründeter Zuversicht“.
Solcher Trost geschieht in der biblischen Josephsgeschichte, in der nach dem vermeintlichen Tod seines Lieblingssohnes der Vater untröstlich ist und seine Söhne ihn mit Lügen trösten wollen, was natürlich nicht funktioniert. Am Ende spendet Joseph echten Trost, der den verschreckten Brüdern einen Neuanfang (mit Gott) ermöglicht.
Solcher Trost geschieht andeutungsweise in Theodor Fontanes Effi Briest, als die unglückliche Effi kurz vor ihrem Tod den einzigen Menschen, der ihr zugetan geblieben ist, fragt, ob sie wohl in den Himmel komme. Und der, ihr Pastor Niemeyer, tröstet sie, indem er ihren Kopf in seine alten Hände nimmt, ihr einen Kuss auf die Stirn gibt und sagt: „Ja, Effi, du wirst“.
Solcher Trost geschieht bei Mose, bei Jona und Elia. Er geschieht in Texten von Heinrich Heine oder Mattias Claudius. In der Musik findet sich Trost, zum Beispiel in Johannes Brahms‘ Requiem.
Aber auch an Beispielen, in denen Trost an der Oberfläche bleibt – therapeutisches Placebo, philosophische Belehrung, billige Vertröstung – lässt sich etwas über Trost lernen. „Vertröstung narkotisiert, Trost antizipiert“, schreibt Reiner Strunk im Kapitel „Trost im Advent“, der ganz im Zeichen des nahenden, erlösenden Gottes steht. Das ist wahrer Trost, der verwandelt und lebendig macht! Das ist die Antwort auf die flehende Bitte „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt?“ Niemand und nichts kann uns angesichts des Todes diesen Trost geben, als allein Christus. Daher singen Christen an Ostern und an den Gräbern: „Christ ist erstanden von der Marter alle; des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein“.
Von diesem Trost kann der Autor Michael Ignatieff in seinem Buch „Über den Trost“ nur als distanzierter Nichtgläubiger berichten. Zwar ist er selbst überrascht, dass ihn die Psalmen, insbesondere in ihren Vertonungen, trösten. Er versucht daher zu verstehen, wie „diese uralte religiöse Sprache uns so verzaubert hatte“. Immerhin bleibt da ein Staunen, eine Irritation, dass biblische Texte ihn anrühren können. Wirklich erklären kann er sich den „Zauber“ nicht. Er sucht andere „Tröstungsbemühungen“ an Beispielen von Texten und Porträts, von Cicero, Marc Aurel, Karl Marx, Albert Camus und vielen anderen.
Wenn Michael Ignatieff sich mit Hiob, mit den Psalmen, mit dem Apostel Paulus beschäftigt, sucht er – anders als Reiner Strunk – nicht die verwandelnde Kraft im Trost, sondern ihm reichen die Hilfsmittel, die es erleichtern, weiterzumachen. Seine Porträts sind spannend zu lesen – wirklich tröstlich sind sie nicht. Ihnen fehlt die Kraft zur Verwandlung, die Reiner Strunk in seinem Buch immer wieder sucht und findet. Das Fazit von Michael Ignatieff gibt sich mit sehr viel weniger zufrieden: „Welche Erkenntnis können wir für Zeiten der Dunkelheit gewinnen? Wir lernen etwas ganz Einfaches: Wir sind nicht allein und sind es nie gewesen."
Reiner Strunk
Wer spricht von Trost. Entdeckungen in Literatur und Bibel
Edition Evang. Gemeindeblatt im Evangelischen Verlag Stuttgart 2020, 184 Seiten, 16,95 Euro
Michael Ignatieff
Über den Trost in dunklen Zeiten
Ullstein Verlag 2021, 347 Seiten, 24,00 Euro
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