Lutherischer Nachruf zum Tod Joseph Ratzingers – Papst Benedikt XVI.


Jesus Christus war das geistliche Lebensthema von Papst emeritus Benedikt XVI. Er wird als einer der größten theologischen Denker des 20. und 21. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher eingehen, der römisch-katholische Priester Joseph Ratzinger, der Theologieprofessor, Erzbischof des Bistums München-Freising, Kardinal und spätere Papst Benedikt XVI. Er ist an Silvester, 31. Dezember 2022, im Alter von 95 Jahren in seiner Wohnung im Vatikan gestorben. Er war von 2005 bis 2013 Oberhaupt der katholischen Kirche und damit der erste deutsche Papst seit 482 Jahren. Der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Hans-Jörg Voigt D.D. (Hannover), hat einen „lutherischen Nachruf“ zum Tod des Papstes verfasst, der an dieser Stelle dokumentiert wird.


Papst

Meiner Meinung nach sind seine drei Jesus-Bücher, „Jesus von Nazareth“, die es in die Bestseller-Listen rund um den Globus geschafft haben, seine wichtigsten Werke. Der sogenannte „historische Jesus“ und der „Christus des Glaubens“ waren bis dahin immer weiter auseinandergerissen worden. Die historische Forschung vertrat die Meinung, dass man nur den historischen Jesus erforschen könne. Die Glaubensaussagen über Jesus Christus aber seien lediglich „Gemeindebildungen“, also Glaubenserzählungen der ersten christlichen Gemeinden. Ratzinger hat mit der Schärfe seines philosophisch gelehrten Verstandes darauf hingewiesen, dass diese Trennung zwischen historischer Forschung und Glauben in die Irre führen muss, da der göttliche Logos Fleisch geworden ist (Johannes 1,14). „Mit diesem Wort bekennen wir uns zum dem tatsächlichen Hineintreten Gottes in die reale Welt“, sagt Ratzinger im ersten Band seiner Jesus-Trilogie. Damit zeigt er einer rein historischen Methode der Schriftauslegung zugleich ihre Grenzen und ihre Bedeutung auf: Sie versucht die historischen Zusammenhänge eines Textes und deren ursprünglichen Sinngehalt möglichst detailreich zu rekonstruieren. Das ist ihr Wert. Wenn das göttliche Wort Fleisch geworden ist, trägt es aber einen Bedeutungsüberschuss in sich, der Historizität beanspruchen muss und sich zugleich historischer Vergleichbarkeit entzieht.

In diesem Zusammenhang denkt Ratzinger auch über die Inspiration des göttlichen Wortes nach. Ein biblischer Autor spricht nicht als privates Subjekt, sondern „Er spricht in einer lebendigen Gemeinschaft …, in der eine größere führende Kraft am Werk ist“, schreibt Ratzinger. In seinem kurzen Beitrag zu einer Umfrage des christlichen Philosophen Robert Spaemann zum Thema: „Wer ist Jesus von Nazareth - für mich?", schreibt Joseph Ratzinger: „Ich vertraue der Tradition in ihrer ganzen Breite. Und je mehr Rekonstruktionen ich kommen und wieder gehen sehe, desto mehr fühle ich mich in diesem Vertrauen bestärkt. Es wird mir immer deutlicher, dass die Hermeneutik von Chalkedon die einzige ist, die nichts weginterpretieren muss, sondern das Ganze annehmen kann." (Das Konzil von Chalkedon im Jahr 451 hat die Lehre von der göttlichen und menschlichen Natur Jesu Christi als untrennbar und unvermischt herausgearbeitet.)

Joseph Ratzinger kommt hier dem lutherischen Theologen Hermann Sasse (1895-1976) erstaunlich nahe, der die Zwei-Naturen-Lehre des Konzils von Chalkedon auf die Schriftlehre angewendet hat: „So wird die Offenbarung im Wort zur Inkarnation. Deshalb ist Jesus Christus, der Fleisch gewordene Logos, die Offenbarung Gottes in dieser Weltzeit. Nur in Ihm, dem ewigen Wort, tritt Gott aus seiner Verborgenheit heraus. Der Mensch Jesus Christus ist das Verbum visibile. Wer Ihn sieht, sieht Gott, soweit er in dieser Weltzeit sichtbar werden kann.“ (Theologiea crucis, 1951).

Man hat Benedikt XVI. vorgehalten, dass die Ökumene nicht sein Herzensanliegen gewesen sei. Ich meine, dass er der Ökumenischen Bewegung sehr viel nachhaltiger gedient hat, als er es mit denkbaren Kompromissangeboten hätte tun können. Indem Benedikt XVI. eine allein auf Jesus Christus ausgerichtete Theologie gelehrt hat, hat er der Einheit der Kirche unschätzbar wertvolle Dienste erwiesen. So ist auch seine Unterscheidung von Gesetz und Evangelium lutherisch anschlussfähig.

Als Papst emeritus sah sich Benedikt XVI. Vorwürfen ausgesetzt, die die Zeit seines bischöflichen Dienstes in München betrafen. Im Zentrum der Vorwürfe stand der Umgang mit einem Essener Diözesanpriester, der nach sexuellen Vergehen an Minderjährigen 1980 nach München geschickt wurde. Ratzinger, damals Münchner Erzbischof, habe von der Sachlage gewusst und der Aufnahme des Priesters zugestimmt. Man kann nur im Ansatz erahnen, wie der glaubensvolle akademische Theologe, der Ratzinger immer geblieben ist, reuevoll an den Niederungen kirchlicher Personalpolitik gelitten hat. Damit musste er noch teilhaben an einer fundamentalen Glaubwürdigkeitskrise der Kirche weltweit, von der keine Konfession ausgenommen ist und deren Ausmaße und Auswirkungen wir noch kaum erahnen können.

Möge sein geistliches Erbe beitragen zu einer künftigen Erweckung in Europa und weltweit, die wir täglich und sehnlich erbitten vom Herrn der Kirche, Jesus Christus. Er lasse sein durch die Taufe zur Ewigkeit geheiligtes Kind, Joseph Ratzinger, nun schauen, was es geglaubt hat, Jesus Christus.


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