Lesenswert
An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.
Ein Lied für den Feind
Es ist Weihnachten, und es ist Krieg. Im Dezember 1914 stehen sich deutsche und englische Soldaten an der Westfront gegenüber. Sie harren aus in den schlammigen Schützengräben, in Kälte und Hunger und in Angst. Dann passiert etwas Unerhörtes. Statt zu schießen, legen die Soldaten auf beiden Seiten die Waffen weg, begraben ihre Toten und feiern mitten in diesem Elend gemeinsam Weihnachten.
Die Autorin Iris Muhl hat um diese wahre Begebenheit herum einen Roman geschrieben, der einen berührt und fesselt. Eindrucksvolle Bilder findet sie für die Szenen an der Front und auch für ihre Naturbeschreibungen. Feinfühlig gestaltet sie die Figuren, so dass man ganz dabei ist, wenn Fred und sein jüngerer Bruder hin und her gerissen sind zwischen dem Wunsch, ihr Zuhause zu verlassen, weil der alkoholkranke Vater die Familie tyrannisiert und den Hof verfallen lässt, und dem schlechten Gewissen der Mutter und den Tieren gegenüber.
Als Fred es schafft, ein Studium der Tiermedizin aufzunehmen, wird er kurz darauf eingezogen. Samuel, sein jüngerer Bruder, meldet sich freiwillig an die Front, um der Gewalt des Vaters zu entkommen.
Aber nicht nur in den Beziehungen in der Familie von Fred und Samuel, auch in der wachsenden Liebe Freds zu Fanny – und selbst in den schlimmsten Tagen des Krieges unter den Soldaten scheinen immer wieder Momente der Menschlichkeit auf. Wenn Fred nicht nur die verletzten Pferde der eigenen, sondern auch der feindlichen Truppen versorgt, wenn Fanny ihm Briefe schreibt und ihm damit Hoffnung gibt. Wenn die Soldaten sich gegenseitig helfen. Und vor allem natürlich, wo sie die Waffen niederlegen und sich als Menschen erkennen, die nichts mehr ersehnen als Frieden.
Bei allen Zweifeln zieht sich ein fester Glaube durch die Geschichte; ja, letztlich ist es die Hoffnung auf Versöhnung – an der Front, aber auch in den familiären Beziehungen –, die tröstet und auf das Kind in der Krippe verweist, auf den, der an Weihnachten Mensch wurde und schließlich die Welt mit Gott versöhnte.
Ein wunderbares „Weihnachtsbuch“.
Iris Muhl
Ein Lied für den Feind
SCM Hänssler Verlag 2024, 298 Seiten, 23,00 Euro
Unter Heiden
Das hatte Tobias Haberl nicht erwartet: Als der Journalist kurz vor Ostern 2023 im Magazin der Süddeutschen Zeitung einen Text mit dem Titel „Unter Heiden“ veröffentlichte, bekam er in den Tagen danach Hunderte von Mails. Haberl hatte davon geschrieben, wie er sich als gläubiger Christ zunehmend unverstanden fühlt, „wie eine seltene Affenart, die man lieber von der anderen Seite eines Gitters aus bestaunt.“ Er hatte es gewagt, sich als gläubiger Katholik zu outen. Und das in einer Zeitung, die traditionell kirchenkritisch eingestellt ist. Umso erstaunter war er, dass die allermeisten Reaktionen positiv, ja dankbar waren.
Diese Resonanz hat den bayrischen Journalisten ermutigt, ein Buch zu schreiben. Ein Glaubensbekenntnis, das im ersten Teil das Lebensgefühl beschreibt, sich als Christ zunehmend rechtfertigen zu müssen, „als hätte ich den Sprung in die Gegenwart verpasst oder irgendetwas nicht ganz verstanden. Das Gefühl von einer Mehrheit zur Minderheit, vom Mainstream zur Randgruppe zu werden …“
In seinem Umfeld lehnen die meisten den Glauben ab, Kirche sowieso. Was Haberl daran besonders stört ist, dass sie in der Regel wenig Ahnung davon haben, was sie da eigentlich ablehnen, und dass sie ihn ohne große Kenntnisse oder Erfahrungen kritisieren dafür, dass er noch in der Kirche ist, regelmäßig in die Messe geht und zu Gott betet.
Tobias Haberl ist im bayrischen Wald aufgewachsen, er wurde katholisch erzogen, „ohne es zu merken, so natürlich, so selbstverständlich fühlte sich alles an.“ Dass das Christentum eine gewaltige Provokation der herrschenden Verhältnisse ist, habe er erst viele Jahre begriffen, schreibt er.
Wie Haberl die zunehmende Marginalisierung der Christen in diesem Land analysiert, ist erhellend und trifft offensichtlich einen Nerv – nicht nur bei Gläubigen. Seinem persönlichen Glaubensweg kann man auch gut folgen, allerdings wirken manche Passagen, in denen er zum Beispiel einen Aufenthalt in einem Kloster beschreibt, etwas aufgeblasen. Und wenn es theologisch wird, dann nicht nur gut katholisch – klar –, sondern manchmal auch ziemlich geschwafelig und gelegentlich sogar kitschig.
Trotzdem: Die Verteidigung von Kirche und Glaube ist ermutigend zu lesen; ja, man ist dankbar, dass einer mal nicht ins große Horn der Kirchenkritik stößt, sondern von der Schönheit und von der Wahrheit des Glaubens schreibt.
Tobias Haberl
Unter Heiden. Warum ich trotzdem Christ bleibe
btb Verlag 2024, 288 Seiten, 22,00 Euro
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