Interview mit Dr. Andrea Grünhagen
Glaube • Hoffnung • Liebe
Dr. Andrea Grünhagen, Pastoralreferentin der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und als Referentin für Theologie und Kirche im Kirchenbüro der SELK in Hannover tätig, hat ein neues Andachtsbuch veröffentlicht: „Glaube, Hoffnung, Liebe – Gedanken zum Kirchenjahr“. selk.de hat die Autorin dazu interviewt.
Liebe Andrea, 2018 hattest du schon ein Buch mit Impulsen zu den Sonntagen, dem Kirchenjahr folgend, veröffentlich. Jetzt ist dein neues Buch erschienen unter dem Titel: „Glaube – Hoffnung – Liebe“: Was hat dich motiviert, neue Texte zu den Sonntagen zu schreiben?
Die Rückmeldungen zu meinem ersten Andachtsbuch. Leute haben mir gesagt, dass es sie irgendwie durch die Coronazeit gebracht hat, als das mit den Gottesdiensten schwierig war. Es wurden ganz verschiedene Aspekte genannt, warum so ein weiteres Buch hilfreich sein könnte, viele auch, die eher in den Bereich der Seelsorge gehören. Also habe ich es getan nach dem Motto: „Keep it simple“. Solide und kostengünstig in Buchform, völlig kostenlos als E-Book. Deshalb bin ich dankbar für die Zusammenarbeit mit dem Sola-Gratia-Verlag.
Ein Stück Motivation war auch, ein Zeichen der Zuversicht zu setzen, damit ich mich nicht nur andauernd mit Kontroversthemen beschäftige in kirchlich schwieriger Lage. Jedenfalls geht es mir nicht darum, meinen Namen mal wieder auf einem Buchdeckel zu lesen. Für das wissenschaftliche Ansehen hilft es eher nicht, wenn man auf die Frage nach seiner jüngsten Veröffentlichung mit „Ein Andachtsbuch!“ antwortet. Das macht mir aber nichts.
Den Dreiklang des Titels – Glaube, Hoffnung, Liebe – kennt man aus dem Vers aus dem 1. Korintherbrief „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Warum hast du ihn als Titel gewählt?
Das hat tatsächlich auch mit dem vorhergehenden Buch zu tun. Jemand machte mich darauf aufmerksam, wie oft ich darin von diesem geistlichen Dreiklang sprechen würde. Mir war es nicht aufgefallen, aber ich begann, darüber nachzudenken, wie Glaube, Hoffnung und Liebe zusammenhängen und warum mir das wichtig ist. Mittlerweile würde ich sagen: es ist mir nach zwei Seiten hin wichtig. Die eine ist die, die ich auch im Vorwort zum neuen Buch erwähne: Ich bin überzeugt, dass Glaube, Liebe und Hoffnung in einem Christenleben wachsen können, dass sie lebendig und dynamisch sind in dem Sinne, dass eine von Gott gegebene Kraft in ihnen liegt. Manchmal wird gesagt: „Menschen ändern sich nicht grundlegend.“ Ich sage dann: „Das mag sein, aber sie können wachsen.“ Es hat aber auch noch eine andere Seite. Mir scheint, die drei Haltungen – was man nicht mit Gefühlen verwechseln sollte – hängen innerlich zusammen. Deshalb können sie sich auch gegenseitig schwächen. Wo die Liebe verloren geht, stirbt die Hoffnung. Wo die Hoffnung zu oft enttäuscht wird, wird das Glauben schwer. Wo der Glaube abnimmt, fehlt die Kraft zu lieben und zu hoffen. Darum ist es wichtig, dass wir uns alles drei immer wieder von Gott stärken lassen. Wir haben das nicht aus uns. Dazu sollen meine Überlegungen helfen.
Deine Texte sind kurz – jeweils zwei bis drei Seiten. Diese Kurzform hat erfahrungsgemäß ihre besonderen Herausforderungen. Wie bist du dabei vorgegangen?
Bei manchen Texten handelt es sich um überarbeitete Varianten von Gedanken, die ich unter www.selk.de/angedacht veröffentlicht hatte. Manche sind ganz neu oder aus einem anderen Anlass geschrieben worden. Anders als viele andere, finde ich es sehr angenehm, mich beim Schreiben auf einen Aspekt, vielleicht sogar auf ein Detail, konzentrieren zu können.
„Angedacht“ ist ja eigentlich ein merkwürdiges, künstliches Wort, und wenn man das Substantiv dazu bildet landet man bei „Andenken“. Andererseits ist es aber eine große Chance, Sachen einfach mal „anzudenken“, ohne den Anspruch zu haben, immer alles sagen zu müssen, was man auch noch sagen könnte. Das hat mich zu dieser Kurzform gebracht. So kann ich auch mal etwas äußern, das vielleicht eher unerwartet ist. Oder eine Anregung zum Weiterdenken und Weitermachen geben. Der Schwerpunkt liegt tatsächlich auf dem geistlichen Leben, auf dem Nachdenken, Umsetzen, Verinnerlichen.
Was unterscheidet dein Buch von anderen Andachtsbüchern, die es auf dem Markt gibt?
Die Orientierung am Kirchenjahr und die Verknüpfung mit dem Gottesdienst, glaube ich. Mir ist wichtig, dass es für ganz unterschiedliche Menschen funktioniert. Alleine kann man das Buch zum Beispiel am Samstagabend als Vorbereitung auf den Sonntagsgottesdienst lesen und sich Zeit nehmen, im Gesangbuch die entsprechenden Lesungen nachzuvollziehen und die Besonderheit jedes Sonn- oder Feiertags zu entdecken. Ein Paar könnte sich vornehmen, beim Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag gemeinsam zu lesen und sich darüber auszutauschen. Das wäre eine kleine Möglichkeit, über geistliche Inhalte ins Gespräch zu kommen. Auch bei einer Familienandacht mit größeren Kindern könnte man es benutzen. Ich kenne viele christliche Familien, die das eigentlich gerne mal ausprobieren oder anfangen würden, aber sie machen die frustrierende Erfahrung, dass es im Alltag zu oft unterbleibt. Vielleicht ist es dann ja eine gute Erfahrung, es einmal in der Woche zu probieren.
Ganz bewusst handelt es sich nicht um komplette Andachten mit Vorschlägen für Lieder und Gebete. Man kann die Texte mit jeder Andachtsform kombinieren oder auch mit gar keiner bestimmten Form. Für einen Gemeindekreis ist das Buch eine gute Möglichkeit, auch unter der Woche auf die Themen des Kirchenjahrs Bezug zu nehmen. Nicht zuletzt hilft es vielleicht jemandem, der nicht oder nicht regelmäßig zum Gottesdienst gehen kann, trotzdem im Rhythmus des Kirchenjahres zu bleiben.
Was würdest du sagen: Wo und wie wird dein lutherischer Background in den Texten deutlich?
Tja also, hoffentlich nicht dadurch, dass ich möglichst viele geprägte Ausdrücke der lutherischen Theologie wie „Wort und Sakrament“, „Gesetz und Evangelium“, „Gericht und Gnade“ verwende und am Ende dann „Christus“ die Antwort auf alles ist, egal worum es sich handelt. So was kann zum Zerrbild lutherischer Auslegung werden. Ich hoffe einfach, dass mein Glaube durchscheint. Das ist ja übrigens die Pointe der Bindung an das lutherische Bekenntnis, wie das Bekenntnis es selbst ausdrücklich in der Konkordienformel deutlich macht. Man muss nicht extra sagen, dies und das, was ich sage oder tue, ist jetzt konfessionell-lutherisch. Sondern mein persönlicher Glaube ist nichts anderes als mein öffentliches Bekenntnis und beides nichts anderes als meine theologische Lehre – das ist unser Anspruch als Kirche, das ist mein theologischer Anspruch an mich.
Ich würde ja gerne mit dem Liedvers sagen können: „im Wort, im Werk und allem Wesen, sei Jesus und sonst nichts zu lesen…“, aber dahinter bleibe ich leider im Glauben, Hoffen und Lieben zurück. Es wäre gut und richtig, und in dem Sinne ist Christus auch Anfang und Ende von allem, aber das kann ich leider so nicht von mir behaupten. Hoffentlich hilft es, dass ich das weiß und es auch offen sage.
Eine Frage zum Prozess des Schreibens: Wie sehr profitierst du vielleicht auch selbst, wenn du Bibelverse in dieser Form auslegst, dich so intensiv damit beschäftigst?
Manchmal frage ich mich, ob ich mir eigentlich selbst glaube, was ich da sage. Wenn ich in Gefahr bin, die Hoffnung zu verlieren beispielsweise. Oft mache ich es so, dass ich mir einen konkreten Menschen vor Augen stelle, dem ich jetzt etwas zu einem Bibelvers sagen möchte. Das hilft mir, es konkret zu formulieren. Ich glaube aber nicht, dass diejenigen das automatisch auch wissen, wenn sie meine Texte lesen. Na ja, ganz wenige können wahrscheinlich wirklich zwischen den Zeilen lesen.
Mir selbst hilft es, nicht einzelne Bibelverse zu sehen, sondern mir den Zusammenklang der Lesungen und ggf. Lieder eines Sonntags bewusst zu machen. Man kann liturgisch so viele Entdeckungen machen. Wenn man sich mit Gottes Wort beschäftigt, lässt einen das immer geistlich wachsen, insofern profitiere ich wohl auch davon, aber darüber denke ich nie nach.
Die Fragen stellte Doris Michel-Schmidt
Das Buch „Glaube, Hoffnung, Liebe – Gedanken zum Kirchenjahr“ hat 240 Seiten und ist erschienen im Sola-Gratia-Verlag Rotenburg (Wümme). Es kann für 7,50 Euro beim Verlag oder über den Buchhandel bezogen werden. Weitere Informationen sowie auch ein kostenloser E-Book-Download finden sich auf der Verlagswebsite.
Ende des Kirchenjahres
„Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude.“ (Jesaja 65,17f.)
An den drei letzten Sonntag des Kirchenjahres (ergänzt durch den Buß- und Bettag) nimmt das Kirchenjahr liturgisch noch einmal Fahrt auf und steuert seinem End -und Höhepunkt entgegen. Es geht um höchst spannende biblische Themen.
Man könnte vielleicht sogar sagen, die drei letzten Sonntage im Kirchenjahr helfen der Kirche, das Kreisen um die eigenen Probleme und die Fragen und Freuden der Welt aus dem Mittelpunkt an die richtige Stelle zu setzten. Nun geht es drei Sonntage lang um die wichtigen letzten Dinge, angesichts derer alles andere eben zum weniger wichtigen Vorletzten wird. Kirche ist, was sie sein soll, wenn ihr Thema die Frage ist, wo die Menschen, wo jeder einzelne von uns, die Ewigkeit verbringen wird.
Nun kann man einwenden, diese Frage habe der Kirche heute aber gar niemand gestellt. Zu sagen ist, dass die uns umgebende Welt diese Frage auch gar nicht stellen kann. Der Schöpfung an sich und jedem Geschöpf wird angesagt, dass es ein Ende mit ihnen haben wird, ohne dass sie danach gefragt haben. Darüber hinaus wird der Welt und jedem Menschen angekündigt, dass Gott Rechenschaft fordern wird. Und dabei geht es dann eben um nichts anderes als die Frage, was mit jedem von uns sein wird, wenn die Ewigkeit anbricht. Die Geschichte des Menschen mit Gott ist erst vollständig, wenn das Ziel dieser Geschichte erreicht ist. Dazu ist Christus geboren, gestorben und auferstanden, dazu hat er den Platz zur Rechten seines Vaters als Herr und Richter eingenommen: damit jeder, der an ihn glaubt, auf eine ganze unendliche Ewigkeit voller Freude zugeht.
„Ihr werdet euch aber freuen mit unaussprechlicher, herrlicher Freude, wenn ihr das Ziel eures Glaubens erlangt, nämlich der Seelen Seligkeit.“ (1. Petrus 1,8f) Wer am letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem Ewigkeitssonntag, einen Gottesdienst besucht, der könnte einmal mitzählen, wie oft das Wort „Freude“ in den Bibeltexten und den Liedern vorkommt. Allein in dem Bibelvers, den Sie oben lesen können, schon zweimal. Wenn Sie dann noch „jubeln“, „jauchzen“, „Wonne“, „fröhlich“ usw. dazu nehmen, werden Sie staunen, was für ein Freudenfest dieser Sonntag ist. Dass in vielen dieser Gottesdienste auch der Toten des vergangenen Jahres gedacht wird ist dazu kein Widerspruch. Christen legen ihre Verstorbenen in die Hände dessen, der sagt: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen…“ Dieser Gott hat dem Tod die Macht genommen und die Vergänglichkeit besiegt und er wird eine ganz neue Welt schaffen, in der uns unser jetziger Kummer nicht mehr das Herz schwermachen wird.
Wegen dieser großartigen Aussicht auf den neuen Himmel und die neue Erde, auf das neue Jerusalem und das Volk, das dort wohnen wird geht es für Christen am Ende des Kirchenjahres wohl um den Gedanken an das Ende der Welt und unseres Lebens und die Verantwortung im Jüngsten Gericht, viel mehr aber um die Vollendung und die ewige Seligkeit. Was eine christliche Gemeinde am Ewigkeitssonntag singt, wird buchstäblich einmal Realität werden:
„Zion hört, die Wächter singen,
das Herz tut ihr vor Freuden springen,
sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommt, vom Himmel prächtig,
von Gnaden stark von Wahrheit mächtig,
ihr Licht wird hell ihr Stern geht auf. Nun komm, du werte Kron‘,
Herr Jesu Gottes Sohn!
Hosianna!
Wir folgen all zum Freudensaal
und halten mit das Abendmahl
Gloria sei dir gesungen
mit Menschen und mit Engelzungen,
mit Harfen und mit Zimbeln schön.
Von zwölf Perlen, sind die Tore
an deiner Stadt; wir stehn‘ im Chore, der Engel hoch um deinen Thron.
Kein Aug. hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört
solche Freude.
Des jauchzen wir und singen dir
das Halleluja für und für.“
Foto: Heziloleuchter im Hildesheimer Dom, um 1070 (bph: Bischöfliche Pressestelle Hildesheim)
Darstellung einer schwebenden Stadt/das himmlische Jerusalem
Gestartet: Wintersemester in Oberursel
Professor Barnbrock im Interview
An der Lutherischen Theologischen Hochschule (LThH) der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Oberursel hat die Vorlesungszeit des Wintersemesters begonnen. Zum Start hat selk.de bei Professor Dr. Christoph Barnbrock, Lehrstuhlinhaber für das Fach „Praktische Theologie“ an der LThH, frische Informationen zu Lehre und Leben an der Hochschule eingeholt.
selk.de: An der LThH hat die Vorlesungszeit des Wintersemesters 2024/25 begonnen. Wie war der Start?
Barnbrock: Ein bisschen ist es zum Semesterbeginn und besonders zu Beginn eines neuen Studienjahrs wie am Anfang einer Jugendfreizeit. Einige kennt man schon, andere sind neu dazugekommen. Ein bisschen Nervosität ist auf Seiten der Lernenden und Lehrenden auch dabei, ob alles so klappt, wie man sich das vorgenommen hat. Ansonsten ist es reizvoll, wieder ins gemeinsame theologische Arbeiten zu kommen. Denn dafür sind wir ja hier.
selk.de: Gibt es bei den Veranstaltungen des neuen Semesters besondere Highlights?
Barnbrock: Es gibt etliche Veranstaltungen, in die ich mich auch selbst gerne noch einmal reinsetzen würde. In den biblisch-exegetischen Fächern kann man ja ohnehin nicht auslernen, weil das Wort Gottes nie auszuschöpfen ist. Da geht es im Alten Testament um das eher unbekannte Buch des Prediger Salomo und die Weisheitsliteratur. Im Neuen Testament werden die großen Reden Jesu im Matthäusevangelium ausgelegt. In der Kirchengeschichte ist der Fokus in diesem Semester auf die Reformationsgeschichte und die Entstehungsgeschichte der SELK gelegt. Und passend dazu bietet unser Professor für Systematische Theologie eine Übung zur jüngsten Bekenntnisschrift der lutherischen Kirche, der Konkordienformel, an.
Auch die Veranstaltungen, die unsere Lehrbeauftragten einbringen, sind eigentlich immer Highlights. In diesem Semester sind es eine Übung mit unserem Bischof Hans-Jörg Voigt D.D. und Dr. Anke Barnbrock zu „Kommunikation in schweren Lebenssituation“, ein Lehrangebot von Pastoralreferentin Dr. Andrea Grünhagen zur Biografie Martin Luthers und eine Lehrveranstaltung von Missionsdirektor Roger Zieger, die sich mit dem Phänomen der „Kontextualisierung“ von Kirche und Theologie befasst. Bei allen Veranstaltungen ist dabei das konfessionell-lutherische Profil das „Vorzeichen vor der Klammer“.
selk.de: Wie viele Studierende gibt es derzeit an der LThH?
Barnbrock: Derzeit sind 21 Studierende eingeschrieben, darunter 4 Gast- und 1 Nebenhörer.
selk.de: Bei so wenigen Studenten an einer Hochschule, ist es ja fast wie in einer Familie. Welche Vor- und Nachteile hat das?
Barnbrock (lacht): Die, die es in jeder Familie gibt: Man bildet eine recht enge Gemeinschaft, in der jeder Einzelne im Blick ist und wo sich bei Problemen und Notlagen auch vergleichsweise passgenaue Lösungen finden lassen. Und andersherum ärgert man sich leicht mal über die kleinen Macken der anderen – wie eben in der Familie, wenn jemand das Geschirr nicht in die Spülmaschine, sondern daneben stellt.
Ich selbst genieße aber das Leben und Arbeiten in dieser Hochschulgemeinschaft und würde es nicht gegen ein anonymeres Arbeitsumfeld eintauschen wollen.
selk.de: Gibt es auch Vorlesungen, in denen nur ein oder zwei Studierende anwesend sind?
Barnbrock: Ja, das gibt es auch, glücklicherweise nicht so oft. An den englischen Eliteuniversitäten ist ja der Unterricht mit einem Professor und einem Studenten ein besonders privilegiertes Lehr-/Lernformat. Mir selbst sind die Veranstaltungen aber lieber, in der wir in einer überschaubaren Gruppe mit fünf, sechs Studierenden zusammen sind. Das ist klein genug, dass jeder sich traut, etwas zu sagen. Und andersherum sind auch genügend Menschen im Raum, um verschiedene Meinungen und Perspektiven einzutragen.
selk.de: Sind für manche Studenten auch die schöne Lage der Hochschule, das moderne Hauptgebäude und die kleinen Gruppen ein Entscheidungsargument für Oberursel?
Barnbrock: Die kleinen Lerngruppen waren gerade für den Sprachunterricht lange Jahre für viele Studierende ein wichtiges Argument, um das Theologiestudium an der LThH zu beginnen. Inzwischen sind die Theologiestudierendenzahlen aber an allen theologischen Fakultäten derart stark zurückgegangen, dass es kleine Lerngruppen leider auch andernorts gibt.
Wie schön unser Campus ist und wie gut es sich hier studieren lässt, erfahren viele, glaube ich, erst, wenn sie hierhergezogen sind. Wo hat man schon an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr Zugang zur Bibliothek? Und natürlich sind auch die kurzen Wege zwischen Appartements und Unterrichtsräumen hier unschlagbar.
Die moderne technische Ausstattung ermöglicht es uns regelmäßig, Fachleute von außen zuzuschalten oder auch die Teilnahme am Unterricht bei leichterer Krankheit zu ermöglichen. Auch das sind alles Pluspunkte, die sich in den letzten Jahren ergeben haben.
selk.de: Wie weit ist die Digitalisierung bei der Theologie angekommen? Sitzen die Studierenden heute alle mit ihrem Laptop in der Vorlesung? Wird noch in der Bibel geblättert oder nur noch am Bildschirm gelesen? Wird noch mitgeschrieben?
Barnbrock: Ja, da hat sich wirklich vieles verändert. Der Laptop ist das normale Arbeitsinstrument geworden. Manches an Unterrichtsorganisation erfolgt heute auch über die Cloud. Und auch beim Unterrichten nutze ich Videoclips oder Umfragetools. Und trotzdem sind die anlogen Medien nicht einfach verschwunden. Gerade Bibeln liegen oft noch mit auf dem Tisch. Und ich merke es auch an mir selbst, dass ich in „echten“ Büchern sorgfältiger und gründlicher lese als in digitalen.
selk.de: Gibt es etwas, was Sie sich von der SELK als Trägerkirche der Hochschule wünschen?
Barnbrock: Vieles muss ich mir gar nicht mehr wünschen, weil es längst geschieht. Ich bin dankbar und auch etwas stolz, dass meine Kirche diese theologische Ausbildungsstätte unterhält, Menschen treu für die Arbeit hier beten und das, was wir hier tun, auch wertgeschätzt wird.
Ich würde mir wünschen, dass das weiterhin so bleibt und Pfarrer, Pastoralreferentinnen und Gemeindeglieder junge Leute ermutigen, das Theologiestudium aufzunehmen. Wir brauchen dringend Nachwuchs für die Leitung unserer Gemeinden.
Und gleichzeitig lade ich dazu ein, die Angebote, die wir über das theologische Tagesgeschäft an der Hochschule auch noch machen, in Anspruch zu nehmen: Seminare und Hochschultage in den Gemeinden, Vorlesungsreihen und Studientage, zu denen man sich auch digital zuschalten kann, Fortbildungsangebote für ganz verschiedene Personengruppen. So versuchen wir, ganz viel von der Unterstützung, die wir aus der Kirche erfahren, auch sehr praxisnah an die Gemeinden zurückzugeben.
Denn meiner Meinung nach gehört beides zusammen: Die Hochschule braucht die Kirche und die Kirche braucht die Hochschule. Zusammen sind wir stark!
selk.de: Das Team von selk.de wünscht allen Lehrenden und Lernenden für das neue Semester neue und vertiefende Erkenntnisse, vor allem aber reichlich Gewinn für die persönliche Vernetzung mit Jesus Christus. Er lege seinen Segen auf dieses neue Hochschulsemester.
Keine hohe Kunst
In seinem Bericht für die Synode des Kirchenbezirks Niedersachsen-Süd der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), die am 1./2. November in Ahnsbeck im Bereich der Gemeinde Lachendorf tagt, nimmt Pfarrer Fritz von Hering (Rodenberg), Vorsitzender des Kirchenmusikalischen Arbeitsausschusses im Bezirk (KAB), auch Stellung zur kirchenmusikalischen Arbeit in kleiner werdenden Gegebenheiten.
Es geht auch an der Arbeit des KAB nicht spurlos vorbei, wie es unserem Kirchenbezirk geht. Die Halbierung der Pfarrkräfte in den letzten drei Jahren, die vielen strukturellen Veränderungen und die je ganz eigenen Nöte in den Gemeinden haben auch deutlich Einfluss auf die Kirchenmusik in den Gemeinden und darüber hinaus.
Aber: Auch wenn es manche organisierte Form der Kirchenmusik momentan etwas schwerer hat, ist das gesungene oder gespielte Gotteslob keineswegs verstummt. Weil wir unserem Gott Lob und Dank, aber auch Sorge und Klage singen können, hat Kirchenmusik auch in unserem Bezirk noch immer eine wichtige Aufgabe.
Wie bleiben wir in unruhigen Zeiten beisammen? Wie können wir Gemeindeglieder in ihrem kirchenmusikalischen Wirken stärken? Wie können wir Freude wecken am gemeinsamen Gotteslob? Das sind Fragen, mit denen wir uns im KAB zurzeit auf vielen Ebenen beschäftigen.
Wir machen dabei unterschiedliche Erfahrungen. Zum einen „funktionieren“ manche Dinge in der Kirchenmusik nicht oder nicht mehr so, wie wir es gewohnt sind oder uns wünschen. Den für das Frühjahr 2024 geplanten Workshoptag „Kirchenmusik“ mussten wir mangels Anmeldungen leider absagen. Auf die Frage, woran es denn gelegen habe, haben wir keine eindeutige, einfache Antwort gefunden.
Für die bezirklichen Kirchenmusikfeste fehlen uns an vielen Stellen momentan die ehrenamtlichen Kräfte. Kein Wunder, würde ich sagen, viele engagierte Gemeindeglieder sind zurzeit ja auch damit beschäftigt in ihrer eigenen Gemeinde den Laden zusammenzuhalten. Ein Impuls im KAB ist da, die Feste unaufwendiger zu gestalten. Ein anderer ist das Konzept, das wir in diesem und im nächsten Jahr erproben, nur noch alle zwei Jahre ein Kirchenmusikfest zu veranstalten und dies sowohl für Sängerinnen und Sänger als auch für Bläserinnen und Bläser gemeinsam zu gestalten. Ich glaube, es lohnt sich sehr, solche Feste auch in Zukunft zu planen, denn es kann eine wunderbare Kraft von ihnen ausgehen. Wer auf der Rückfahrt im Auto das „Herr unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen“ beim besten Willen nicht aus dem Kopf bekommt und es noch Tage vor sich hinsummt, weiß, wovon ich spreche. Sich wahrnehmen als Gemeinschaft im Glauben, die nicht an einen Ort oder eine Gemeinde gebunden ist, das ist wirklich belebend.
Zum andern merken wir aber auch, wie hier und da kleinere kirchenmusikalische Projekte Früchte bringen. Aus persönlichem Erleben möchte ich von unserem musikalischen Projekt zum 150-jährigen Gemeindejubiläum in Rodenberg erzählen. Dort haben wir Gottfried Meyer, Verantwortlicher in der Bläsermusik unseres Kirchenbezirks, „gebucht“ und mit ihm zusammen alle möglichen Musikerinnen und Musiker aus der Gemeinde und ihrem Umfeld angerufen. Dann haben wir Musik gemacht, mit dem was da war: unserem kleinen Posaunenchor, ein paar Bläsern aus der Landeskirche, einer Klarinette, einem Saxofon, einer Flöte, einer Band und einem spontanen Chor. Es waren am Ende zwar doch recht viele Noten, aber nichts Kompliziertes. Fröhlich und von Herzen Gott loben und etwas weitergeben von der Botschaft, die uns zusammenhält und trägt. Dafür braucht es keine hohe Kunst und ein halbes Jahr ermüdende Proben. Das geht sogar, wenn nur 80 Prozent der Töne richtig sind. Es ist die Freude am Glauben, die man so wunderbar in Musik stecken kann, die dafür sorgt, dass es keine 5 Minuten gebraucht hat nach dem Festgottesdienst, dass die Ersten schon Pläne gemacht haben, wann sich so etwas wiederholen lässt.
Lesenswert
An dieser Stelle werden auf selk.de regelmäßig Bücher vorgestellt: zum Lesen, zum Verschenken, zum Nachdenken, zum Diskutieren – Buchtipps für anregende Lektürestunden. Die hier veröffentlichten Buchvorstellungen hat Doris Michel-Schmidt verfasst.
Der Bauernspiegel
Albert Bitzius war Pfarrer im schweizerischen Emmental. 1837, da war Bitzius schon 40 Jahre alt, erschien sein erster Roman, der „Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben“. Es ist mitnichten die Biografie des Albert Bitzius, aber es ist die Eröffnung eines literarischen Werkes, das er fortan unter dem Namen Jeremias Gotthelf veröffentlichen wird und das am Ende 13 Romane und 75 Geschichten umfassen wird.
Im Diogenes Verlag erscheint nun sein gesamtes Werk in einer neuen Leseausgabe, die hoffentlich dazu beitragen wird, diesen Autor neu zu entdecken, der mit ungeheurer Kraft menschliches Elend, ja die Boshaftigkeit der Welt, darstellt und anprangert, und gleichzeitig so behutsam wie deutlich ihre Hoffnung und den Weg zu ihrer Erlösung zeigt.
Im „Bauernspiegel“ hält Gotthelf der bäuerlichen Welt der Schweiz im 19. Jahrhundert den Spiegel vor. Wir sehen darin, wie der „Verdingbub“ Jeremias jahrelang gleichsam als Leibeigener von Bauern ausgenutzt und drangsaliert wird, wie Lehrer und Politiker, ja auch Pfarrer in diesem brutalen, ungerechten System mitwirken. Wir sehen, wie die Liebe zu seinem Anneli jäh ein Ende findet, als sie bei der Geburt ihres ersten Kindes stirbt, weil der Arzt, aus Sorge um sein Honorar, nicht rechtzeitig kommt. Wir sehen, wie Jeremias fliehen muss und in die französische Armee eintritt, wie er als Kriegsverletzter heimkehrt, und wie schließlich ein gar sonderlicher Schriftsteller aus ihm wird: All das zeigt uns dieser „Bauernspiegel“ mit großer Wucht und Bildern, die man nicht vergisst.
Aber wer sich traut, der sieht in diesem Spiegel noch vielmehr. Der sieht, wie das Böse den Menschen von seiner göttlichen Bestimmung abbringt. Und wie ihm das besonders leicht gelingt, wo Armut, Ungerechtigkeit, wo Gier und Eigennutz herrschen. Der sieht, was Schuld in der Seele anrichtet und wie Lieblosigkeit sie verletzt. Insofern hat Gotthelfs Bauernspiegel bis heute nichts von seiner erschütternden Wirkung verloren.
Hilfreich ist im Anhang des Romans ein umfangreiches Glossar der Mundartausdrücke und eine Tabelle mit Angaben zu Währungen, Gewichten und Maßen.
Jeremias Gotthelf
Der Bauernspiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst beschrieben
Zürcher Ausgabe, hrsg. Von Philipp Theisohn, mit einem Nachwort von Lukas Bärfuss; Diogenes Verlag 2024, 533 Seiten, 32,00 Euro
Der Ketzer von Konstanz
Hundert Jahre vor Martin Luther kritisiert der böhmische Theologe Jan Hus die Kirche und prangert Machtkämpfe und Intrigen in ihren Reihen an. Vor allem erinnert er unermüdlich daran, dass Erlösung durch die Gnade Gottes empfangen wird und nicht erkauft werden kann.
Auf dem Konzil in Konstanz im Jahr 1414 soll Hus seine Lehren verteidigen – das hofft er zumindest, da ihm König Sigismund freies Geleit zugesichert hat. Stattdessen wird er als Ketzer zum Tod verurteilt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Corinna Wolf, Psychotherapeutin und Autorin in Konstanz, ist dem Leben und Wirken des Reformators Jan Hus nachgegangen und hat ein bemerkenswert einfühlsames Buch über seinen letzten Weg geschrieben. Kein Sachbuch, sondern einen Roman, der aber, das merkt man, auf gründlicher Recherche beruht. Die Figuren werden einem sehr schnell vertraut, gekonnt formulierte innere Monologe und Gespräche nehmen einen unmittelbar in das Geschehen hinein.
Aber die Autorin geht noch einen Schritt weiter, deutet den Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Engel und Dämonen an, beschreibt Szenen, in denen diese Geister für Jan Hus und seine Getreuen teilweise sogar sichtbar sind. Sie tut das nicht aufdringlich, sondern so, dass es der Dramatik dieser Tage und Wochen damals in Konstanz voller Angst und Hoffnung eine geistliche Tiefe gibt, die einem die Figuren im Glauben noch näherbringen.
Am Ende, kurz vor seinem grausamen Tod auf dem Scheiterhaufen, hadert Hus ein letztes Mal damit, dass er gezweifelt hat, dass er mehr als einmal überlegt hat, ob er doch widerrufen und sein Leben damit retten soll. Er entscheidet sich, lieber in den Tod zu gehen und betrauert gleichzeitig, dass er nicht stärker war. Doch in dem Moment spürt er Jesus neben sich: „Er war nicht allein. Und so konnte er sich seiner Schwachheit ergeben und die Hoffnung in sich spüren, dass Jesus wusste, was er tat.“
Corinna Wolf
Der Ketzer von Konstanz
SCM Hänssler Verlag 2024, 442 Seiten, 23,00 Euro
Weitere Buchtipps finden Sie im Archiv.
Peter Matthias Kiehl: Superintendent in Hessen-Süd
Peter Matthias Kiehl (65), Gemeindepfarrer der Gemeinde Darmstadt-Reichelsheim der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SLEI), ist seit März dieses Jahres Superintendent des Kirchenbezirks Hessen-Süd der SELK. Für selk.de führte der Geschäftsführende Kirchenrat Daniel Soluk (Hannover) über die ersten Monate der Erfahrung im Leitungsamt des Superintendenten ein Interview mit Peter Matthias Kiehl.
selk.de: Lieber Peter Matthias, du wurdest im März 2024 zum Superintendenten des Kirchenbezirkes Hessen-Süd gewählt. Seitdem ist nun etwas Zeit vergangen – die Schonfrist ist quasi vorbei. Wie waren deine ersten Erfahrungen und Erlebnisse als einer von zehn Superintendenten unserer Kirche?
Kiehl: Ich habe großen Respekt vor diesem Dienst, weil mit ihm bischöfliche Verantwortung verbunden ist. Meine ersten Erfahrungen – Gespräche mit Hauptamtlichen, Begegnungen mit Kirchenvorständen – haben mich aber sehr ermutigt. Insbesondere fühle ich mich von meiner Gemeinde und von den Mitbrüdern im Kirchenbezirk getragen. Auch wenn ich aufgrund meines Alters nur eine kurze Amtszeit haben werde, habe ich mir vorgenommen, zumindest einige „kleine“ Visitationen durchzuführen.
selk.de: Unsere Kirche erlebt eine diskussionsreiche Zeit in einer Gesellschaft, die unter Kontroversen, Kriegen und Katastrophen leidet. Welche Bibelstelle gibt dir Halt und Trost?
Kiehl: Wir wissen, dass diese Welt und in ihr alle gesellschaftlichen Vereinbarungen vorläufig und endlich sind. Wir erwarten etwas Neues nach Gottes Verheißung (vgl. Die Bibel: 2. Petrusbrief Kapitel 3, Vers 13). Diese Perspektive gibt mir Halt und Gelassenheit.
selk.de: Welche Herausforderungen siehst du für unsere Kirche oder den Kirchenbezirk im Speziellen? Was macht dir dabei Mut?
Kiehl: Die Herausforderungen für die Kirche sind die gleichen wie in früheren Zeiten: an der „gesunden Lehre“ (Die Bibel: 2. Timotheusbrief, Kapitel 4, Vers 3) festhalten und zugleich sich auf die Sprach-, Verständnis- und Denkfähigkeit der Menschen heute einlassen. Ich denke, angesichts der kirchlichen Lage in unserem Land sollte die SELK nicht versuchen, auf allen aktuell angesagten Hochzeiten mitzutanzen, sondern ihre im besten Sinne konservative Haltung zu bewahren und einheitlich aufzutreten. Das gilt übrigens auch unter dem Gesichtspunkt von „Marketing“. Hier sehe ich noch Luft nach oben.
Mut machen mir viele gute Menschen in unserer Kirche, konkret in meinem Kirchenbezirk. Angesichts fehlender Pfarrer und der geografischen Gegebenheiten werden wir in der nächsten Zeit auch weiter darüber nachdenken, wie die Zusammenarbeit in pastoralen Räumen besser organisiert werden kann, und ob Bezirksgrenzen oder Zuordnungen von Gemeinden anders geordnet werden sollten.
selk.de: Unsere Kirche hat in ihrer Kirchenmusik ein sicherlich besonders (traditionelles wie aktuelles) hohes Gut in der christlichen Szene. Mit welcher Musik, mit welchem Lied kannst du den Glauben an unseren dreieinigen Gott am intensivsten leben?
Kiehl: Ehrlich gesagt, habe ich etwas Bedenken bei dieser vollmundigen Behauptung. Was in unseren Gottesdiensten musikalisch praktiziert wird, empfinde ich nicht immer als angemessen und gelungen. Wir schleppen hier manchen Ballast mit uns, den ich als wenig gemeindegemäß empfinde.
Bestimmte Musik zu nennen fällt mir schwer; ich kann mit Kirchenmusik in vielerlei Gestalt etwas anfangen, wenn sie in das Geheimnis des Glaubens hineinführt. Im Studium habe ich die Welt des Gregorianischen Chorals kennengelernt, die ich liebe, weil sie aus dem Wort Gottes gezeugt ist. Alte und neue Kirchenlieder mit ansprechenden Texten und passenden Melodien mag ich ebenso wie gute Worship-Musik und Taizé-Gesänge.
selk.de: Als Superintendent des Kirchenbezirks Hessen-Süd bist du auch Teil des „Kollegium der Superintendenten“, kurz „KollSup“, das sich traditionell zu zweitägigen mehrtägigen Sitzungen im Jahr trifft – mitunter zusätzlich, vorrangig digital, zu eintägigen Zusammenkünften. Welche Erfahrungen konntest du dort machen und wie erlebst du die Zusammenarbeit in diesem Gremium?
Kiehl: Hier fühle ich mich noch ganz als Neuling. Ich staune über die Vielzahl der Diskussionen und Entscheidungen bei den Tagungen, an denen die Superintendenten (und Pröpste) nicht in ihren Gemeinden sind. Ich frage mich, ob dies nicht auch „schlanker“ organisiert werden kann.
selk.de: Seit 2010 bist du Pfarrer des Pfarrbezirks Darmstadt/Reichelsheim. Was erlebst du in den Gemeinden vor Ort und was macht dir dort große Freude oder stellt dich vor Herausforderungen?
Kiehl: Ich erlebe die Unterschiedlichkeit der Menschen und ihrer Zugänge zum Glauben. Als Herausforderung empfinde ich es, für sie alle da zu sein und vielen etwas geben zu können. Diese Herausforderung anzunehmen macht mir Freude. Übrigens bin ich aufgrund einer Vereinbarung im Rahmen der Stellenkürzung seit zwei Jahren auch Seelsorger der Trinitatisgemeinde Frankfurt am Main – eine schöne Erfahrung, wenn auch organisatorisch manchmal anspruchsvoll.
selk.de: Wenn du einen Menschen auf der Straße von unserer Kirche überzeugen müsstest: Mit welchen Argumenten würdest du das tun? Welchen Schatz haben wir – deiner Meinung nach – an unserer SELK?
Kiehl: Ich schätze das Gegründetsein in Schrift und Bekenntnis in der Verbindung mit dem vertrauten Miteinander in überschaubaren Gemeinden.
selk.de: Wir wünschen dir für deine weitere Leitungs-, aber auch Gemeindearbeit und für dich persönlich Gottes Segen!
Unser Bekenntnis – Artikel 9: Von der Taufe
Das Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) ist die grundlegende Bekenntnisschrift der im Konkordienbuch (1580) abgedruckten verbindlichen Bekenntnisse der Kirche der lutherischen Reformation. In loser Folge lesen Sie hier Erläuterungen zu den einzelnen Artikeln von Dr. Gottfried Martens D.D., Pfarrer der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Berlin-Steglitz.
Von der Taufe wird gelehrt, dass sie notwendig ist zum Heil und dass durch die Taufe die Gnade Gottes dargeboten wird und dass man auch die Kinder taufen soll, die durch die Taufe Gott überantwortet und in die Gnade Gottes aufgenommen werden. Deshalb werden die Wiedertäufer verworfen, die lehren, dass die Kindertaufe nicht recht sei, und behaupten, dass die Kinder ohne Taufe gerettet werden.
Der neunte Artikel des Augsburger Bekenntnisses enthält keine vollständige Lehre von der Taufe. Er verfolgt zunächst einmal deutlich erkennbar ein „politisches“ Ziel: Dem Kaiser sollte ganz klar gemacht werden, dass die Bekenner von Augsburg mit der Bewegung der Wiedertäufer nichts zu tun haben und in der Haltung zu ihnen Seite an Seite mit den „Altgläubigen“ stehen. Dies war nicht zuletzt darum wichtig, weil sich die Wiedertäufer mit ihrer Lehre und Praxis außerhalb des staatlichen Rechtes stellten und darum auch mit staatlichen Maßnahmen bekämpft wurden. Dem wollten sich die Bekenner von Augsburg natürlich keinesfalls ausgesetzt sehen. Dass man sich im weiteren Verlauf der Geschichte auch von lutherischer Seite nicht selten an Verfolgungsmaßnahmen gegenüber den „Wiedertäufern“ beteiligt hat und diesen damit oftmals schweres Leid zugefügt hat, hat vor längerer Zeit der Internationale Lutherische Rat (ILC), der weltweite Zusammenschluss bekenntnisgebundener lutherischer Kirchen, auf einer Konferenz unter der Leitung des damaligen Vorsitzenden des ILC, SELK-Bischof Hans-Jörg Voigt D.D., „mit großem Respekt anerkannt und bedauert“.
Dennoch würde man den 9. Artikel des Augsburger Bekenntnisses nicht recht verstehen, wenn man ihn nur als Ausdruck eines kirchenpolitischen Manövers interpretieren würde. In ihm finden sich trotz seiner Kürze wesentliche inhaltliche Aussagen über die Taufe, die für das lutherische Bekenntnis zu diesem Thema von entscheidender Bedeutung sind:
Zunächst einmal wird festgehalten, dass die Taufe „notwendig zum Heil“ ist. Dies ist eine sehr starke Aussage, die aber schlicht und einfach Markus 16,16 wiedergibt: „Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ Immer wieder gibt es Versuche, die Bedeutung, die der Taufe in diesem Vers zugebilligt wird, dadurch zu relativieren, dass auf den zweiten Halbvers verwiesen wird, wo es allein heißt, wer aber nicht glaube, werde verdammt. Also, so wird dann gleichermaßen messerscharf wie unbiblisch gefolgert, komme es gar nicht auf die Taufe, sondern nur auf den Glauben an; den Verweis auf die Taufe habe Christus sich eigentlich auch schenken können. Doch Christus nennt Glaube und Taufe als Voraussetzungen dafür, selig zu werden, oder besser gesagt: als die Art und Weise, in der einem Menschen das Heil, die Rettung zuteilwird.
Melanchthon schweigt hingegen in diesem Artikel vom Glauben. Dies hat, wie gesagt, nicht bloß taktische Gründe. Sondern damit will er an dieser Stelle das so weit verbreitete Missverständnis vermeiden, wonach der Glaube gleichsam eine menschliche Ergänzung des Handelns Gottes in der Taufe sei oder gar die Taufe nur noch als Ausdruck und Bekenntnis des Glaubens des Täuflings verstanden wird. Genau hier liegt auch der grundlegende Fehler im Taufverständnis auch heutiger Wiedertäufer, den man – bei allem Bedauern über ihre Behandlung in der Vergangenheit – doch auch heute klar benennen muss: Glauben wird bei ihnen immer wieder verkürzt als menschliche Entscheidung oder als Verstehen wahrgenommen, als Bedingung, die der Mensch zu erfüllen hat, um gerettet zu werden. Entsprechend wird Kindern die Fähigkeit zu solch einer Entscheidung oder solchem Verstehen abgesprochen – und damit auch die Möglichkeit, die entscheidende Bedingung zu erfüllen, die für den Empfang der Taufe vorausgesetzt werden muss. Geht man erst einmal von diesem – übrigens sehr neuzeitlichen – Verständnis von Glauben aus, dann ist die Argumentation in sich durchaus stimmig. Doch ihr entscheidender Fehler liegt eben darin, dass sie dem biblischen Verständnis von Glauben nicht gerecht wird, dies aber auch gar nicht weiter bedenkt: Glauben ist gerade nicht menschliche Entscheidung, sondern Ausdruck der Entscheidung Gottes für den Menschen, ist Gabe und Wirkung des Geistes Gottes, ist unendlich mehr als „Entscheidung“ oder „Gefühl“, ist vielmehr seinsmäßige Verbindung mit Christus: „Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn (!) ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.“ (Galater 3,26+27) Glauben heißt: durch die Taufe Christus anziehen und in ihm sein. Glauben ist gerade der Ausdruck dessen, dass nicht ich Gott etwas zu bieten habe, sondern dass er alles für mich tut. Und Gott hat nun einmal entschieden, Menschen durch das Bad der Wiedergeburt selig zu machen (Titus 3,5).
Im 9. Artikel des Augsburger Bekenntnisses wird Gottes Handeln in der Taufe sehr kurz und knapp skizziert: „dass durch die Taufe die Gnade Gottes dargeboten wird“. Eindeutig wird damit markiert, dass sich in der Taufe – wie überhaupt im Verhältnis des Menschen zu Gott – eine Bewegung von Gott zum Menschen hin und nicht umgekehrt vollzieht. Das Wort „darbieten“ meint dabei in diesem Zusammenhang eben nicht bloß ein unverbindliches oder neutrales Angebot, das den Menschen zur Entscheidung zwingt und insofern sein Mittun erfordert. Sondern das Wort „darbieten“ meint im lateinischen Text so viel wie „schenken“ oder „übereignen“. Übereignet wird die Gnade Gottes, so formuliert Melanchthon hier. Was mit der Gnade Gottes gemeint ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang des Galaterbriefs und überhaupt der lutherischen Bekenntnisse sehr deutlich: Sie ist eben nicht bloß eine Befähigung des Menschen, nach Gottes Willen leben zu können, sondern die heilvolle Zuwendung Gottes zum Menschen schlechthin. Entsprechend wird man, werden auch schon Kinder in diese Gnade Gottes „aufgenommen“, wie es gleich darauf heißt: „Gnade“ heißt eben so viel wie „in Christus sein“, mit ihm verbunden sein, wie Paulus es in Galater 3,27 formuliert: In der Taufe ziehen wir Christus an und sind dadurch „in Christus“. Und genau das nehme ich dann dankbar und voll Freude wahr. Mit den Worten Martin Luthers aus dem Großen Katechismus: Mein Glaube macht nicht die Taufe, sondern er empfängt die Taufe. Und dieses Empfangen kann eben auch so aussehen, dass ich im Rückblick darüber staune, was in der Taufe an mir geschehen ist: Mir ist Gottes Gnade, seine Zuwendung zu mir geschenkt worden.
Wenn das klar ist, dann ergibt sich daraus von selbst, dass auch schon Kinder getauft werden sollen. Denn auch Kindern kann man schon etwas schenken, dessen Bedeutung ihnen vielleicht erst später ganz aufgeht und das für sie doch auch schon zuvor entscheidend wichtig ist. Die Entscheidung darüber, ob es richtig ist, Kinder zu taufen, fällt aus lutherischer Sicht nicht in der Beantwortung der Frage, ob schon die Apostel Kinder getauft haben. Es gibt gute historische Gründe dafür, dass sie dies getan haben. Doch entscheidend ist allein, wie wir die Taufe verstehen: Ist sie ein Tun des Menschen, dann sollten wir keine Kinder taufen. Ist sie ein Tun Gottes, dann ist es konsequent, dass wir auch Kinder taufen, damit auch sie Gott überantwortet und sein Eigentum werden.
Was Melanchthon hier im 9. Artikel des Augsburger Bekenntnisses ganz kurz skizziert, hat erhebliche Auswirkungen in der kirchlichen Praxis:
Weil die Taufe „notwendig zum Heil“ ist, praktiziert die lutherische Kirche die Nottaufe: Wenn kein Pastor mehr herbeigerufen werden kann, hat jeder Christ das Recht, ja die Pflicht, einem anderen Menschen die Heilige Taufe zu spenden, wenn dieser zu sterben droht oder wenn auch auf absehbare Frist nicht zu erkennen ist, dass ein Pastor kommen und die Taufe vollziehen könnte. Genauso haben es in der Zeit der Sowjetunion viele lutherische Großmütter gehalten und praktiziert – Gott sei Dank! Und eben darum lernen auch die Konfirmanden in unserer Gemeinde schon im Vorkonfirmandenunterricht, wie man eine Nottaufe vollzieht: In der größten Not reicht es, den Kopf des Täuflings mit Wasser zu begießen und die Taufformel zu sprechen: „N.N. (Name des Täuflings), ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Selbst wenn wir nicht in die Lage kommen sollten, selber eine Nottaufe zu vollziehen, tun wir doch gut daran, dort, wo wir die Verantwortung haben, dafür zu sorgen, dass ungetaufte Kinder bald getauft werden. Und wir tun gut daran, auch Menschen in unserem Bekannten- und Freundeskreis auf die Taufe anzusprechen, wenn wir etwa davon hören, dass ein Mensch schwer erkrankt ist, der noch nicht getauft ist. Dass zu der Taufe immer auch die Verkündigung des Evangeliums bzw. die Erziehung im Glauben dazugehört, ist dabei klar.
Damit sind wir bei einem weiteren ganz praktischen Punkt: der Taufzulassung. Die Spendung der Taufe setzt voraus, dass der Empfänger nach menschlichem Ermessen etwas von der Taufe erfährt bzw. dazu bereit ist, im Weiteren auch als Getaufter zu leben. Die Spendung der Taufe ist keine kirchliche Nettigkeit, mit der die Kirche einer Familie eine schöne Familienfeier angesichts der Geburt ihres Kindes ermöglicht und diese Feier ein wenig religiös untermalt. Wo diejenigen, die für die Erziehung des Kindes verantwortlich sind, nicht zu erkennen geben, dass sie es dem Täufling ermöglichen werden, auch weiter in der Gemeinschaft der Kirche leben zu können, darf ein Pastor nicht taufen. Darum gibt es auch die entsprechenden Fragen in der Taufliturgie bei der Taufe von Kindern, die an Eltern und Paten gerichtet werden. Und ebenso setzt die Taufe eines Erwachsenen voraus, dass er um die Grundlagen des christlichen Glaubens weiß und deutlich macht, dass er auch weiter aus der Kraft der Taufe leben will. Darum geht der Taufe von Erwachsenen in unserer Gemeinde ein Taufunterricht voraus, in dessen Verlauf der Pastor sich von der Ernsthaftigkeit des Taufbegehrens überzeugen kann. Es ist dann allerdings tatsächlich auch seine Aufgabe und nicht etwa die staatlicher Gerichte, diese Ernsthaftigkeit festzustellen und daraufhin die Taufzulassung zu erteilen.
Erwähnt wurden eben schon die Paten: Ihr Amt ist kein familiärer Ehrendienst, sondern ein kirchliches Amt, das ihnen auch von der Kirche – in den meisten Fällen auf Vorschlag der Eltern oder des Täuflings selbst – übertragen wird. Dies sollten auch Eltern immer berücksichtigen, wenn sie Paten für ihre Kinder aussuchen: Kriterium dafür sollte nicht die freundschaftliche oder verwandtschaftliche Verbindung der Paten zu den Eltern des Täuflings sein, sondern einzig und allein, ob dieser Pate oder diese Patin dem Täufling mit dem eigenen Lebensbeispiel Mut macht, als Christ zu leben und bei Christus zu bleiben. Hier klaffen leider Anspruch und Realität in der Praxis oft weit auseinander, und so kann oftmals nur noch im Taufgespräch versucht werden, den Paten etwas von den Aufgaben zu vermitteln, die sie mit der Übernahme des Patenamtes zu erfüllen versprechen.
Melanchthons Anliegen im 9. Artikel des Augsburger Bekenntnisses ist, mit unseren heutigen Worten, ein ausgesprochen „ökumenisches“: Er möchte betonen, dass es Grundlagen gibt, von denen auch Christen verschiedener Konfession gemeinsam ausgehen können. Dieses Anliegen ist hier in Deutschland vor einigen Jahren in der sogenannten „Magdeburger Erklärung“ aufgegriffen worden, in der die „seriösen“ christlichen Kirchen die Gültigkeit der in den jeweils anderen Kirchen gespendeten Taufen wechselseitig anerkennen; so hat auch die SELK diese Erklärung unterschrieben. Dies schließt allerdings auch die Anerkennung von Taufen ein, die Kindern gespendet werden. Und von daher haben die Nachkommen der Wiedertäufer, die Baptisten und andere Freikirchen, diese Erklärung auch nicht mit unterschreiben können. Auch da schließt sich dann wieder der Kreis zum 9. Artikel.
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© Foto: Taufstein der Pella-Kirche der SELK in Amelinghausen-Sottorf (SELK-Material)
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Diebin des Herzens
Maria Albers, Jahrgang 1997, aus der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) hervorgegangen, und mittlerweile mit ihrem Mann, Pfarrer der Freien Evangelischen Synode in Südafrika, und den drei Kindern in Südafrika lebend, hat im evangelikalen Marburger Verlag Francke Buch GmbH ihren Debütroman veröffentlicht: Diebin der Herzens.
In die Atmosphäre der Stadt London im Jahr 1890 können Leserinnen und Leser rasch eintauchen und mitfühlen mit den Hauptcharakteren. Die wechselnden und dabei gut nachvollziehbaren Erzählstränge dieses gelungenen Erstlingswerks halten die Spannung bis zum Schluss.
Verwoben in eine zarte Liebesgeschichte und die nötigen Hindernisse bis zum Happyend, geht es thematisch darum, wie Menschen auf die schiefe Bahn geraten, und um die Schwierigkeiten, wieder hinauszufinden. In diesem Zusammenhang werden im Erleben der Romanfiguren verschiedene Facetten von Streben nach Rache, von Loslassen und Vergebung lebendig dargestellt.
Über viele Seiten hin erschloss sich uns zunächst nicht, weshalb dieses Werk in einem dediziert christlich-evangelikalen Verlag erschienen ist. Zugleich empfanden wir das als wohltuend: Es liegt hier kein übertrieben frommes Buch vor, sondern: Durch dieses Vorgehen der Autorin waren wir bereits mitten in der Geschichte, als erste Anklänge einer christlichen Sicht und einer einladend seelsorglichen Haltung ausdrücklich Erwähnung fanden. So ist der individuelle Glauben überwiegend organisch mit dem Erleben der Protagonistinnen und Protagonisten verbunden; spät, aber wirkungsvoll findet die Praxis der Gottesdienstbesuche ihren Niederschlag.
Wenn wir auch über zwei Kleinigkeiten leicht erheitert gestolpert sind – über eine Gebetserhörung im Turboverfahren (S. 240) und über einen in fliegender Hast atemlos gekritzelten Schrieb, der sich in späterer Zitation als ausgesprochen ausführlicher Brief erweist (Seiten 282 und 289f) –, so haben wir das spannende Buch zwischen Krimi und Liebegeschichte doch durchgehend mit Freude und Gewinn gelesen, empfehlen es gern zum Selbstlesen und Verschenken und warten gespannt auf die nächste Veröffentlichung der Autorin.
Maria Albers
Diebin des Herzens
Verlag Francke Buch GmbH, Marburg 2024, 368 Seiten, 16,00 Euro
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Ich war doch noch ein Junge
Als polnischer, jüdischer Junge wurde Mitka, vermutlich 1939, in ein ukrainisches Internat gebracht. Was mit seinen Eltern passierte, hat er nie erfahren. Er entkam der Hinrichtung durch die anrückenden Nazis, weil er beschloss, aus der Schule zu fliehen. Allein, durch den Wald und über Felder. Er erlebte Massenerschießungen – und überlebte, unter Leichen begraben. Er wurde zwischen Erwachsenen in Viehwaggons gepfercht und in Konzentrationslager deportiert. Er sah die Folterungen, die Leichenberge. Er überlebte.
Später kam Mitka in das Lager Pfaffenwald bei Rothenburg an der Fulda. Auch als Achtzigjähriger kann er nicht erzählen, was er dort gesehen hat. Von Gustav Dörr, einem Nazi, wurde er aus dem Lager geholt, als Kinderarbeiter auf seinem Hof. Mitka heißt jetzt Martin, und ihm wird als Geburtsdatum der 14.12.1932 zugewiesen – damit er das vorgeschriebene Mindestalter für Zwangsarbeiter von zehn Jahren dokumentieren konnte.
Sieben Jahre dauerte das Martyrium Mitkas auf dem Dörr’schen Hof. Er wurde gehalten wie ein Stück Vieh, ja schlimmer, er wurde geschlagen und erniedrigt - und er hatte immer Hunger. Trotzdem: In all den Jahren lief er nicht weg. „Wo hätte ich hingehen sollen?“ sagt er und dass er es ja nicht anders kannte.
Eines Tages hört Mitka, versteckt in einer Kammer des Hauses, eine Stimme zu ihm sagen: „Am Ende findest du dein Ziel“. Noch heute ist Mitka gerührt, wenn er von diesem Erlebnis erzählt, das ihm Kraft gab durchzuhalten. Er ist überzeugt, dass Gott damals zu ihm gesprochen hat und ihm dieses Versprechen gab.
Bis Mitka, der als Kind so unglaubliche Schrecken erlebt hat, seine Geschichte erzählen konnte, hat es lange gedauert. Er kam nach Amerika, seinem „gelobten“ Land, das er aus dem Kino kannte, er heiratete, er fand Arbeit, er bekam Kinder. Endlich hatte er eine Familie, nach der er sich immer so gesehnt hatte. Ein ganz normales, scheinbar perfektes Leben.
Über seine Kindheit redete er nie. Aber die Schatten seiner Vergangenheit holten ihn irgendwann ein. Nach Jahrzehnten des Schweigens konnte er seiner Frau Adrienne nach und nach erzählen, was er als Junge erlebt hatte. Und endlich, mit ihrer Hilfe, machte er sich auf, nach seinen Wurzeln zu suchen, nach seiner Familie und nach seiner Identität als Jude.
Das Autorenteam hat mit Mitka und Adrienne zusammen die Stationen seiner Kindheit sorgfältig recherchiert und erzählt sein Leben in diesem Buch emphatisch, respektvoll, fesselnd. Sehr beeindruckend!
Steven W. Braillier u.a.
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Papierkinder
Als Emma und Mathilde im Armenhaus in Berlin-Steglitz ein Neugeborenes vor dem sicheren Tod retten, schweißt das die beiden Mädchen zusammen. Und auch wenn ihre Freundschaft im Lauf ihres Lebens Belastungen ausgesetzt ist: Es eint sie die Überzeugung, dass Kinder beschützt werden müssen – im 19. Jahrhundert kein selbstverständlicher Gedanke. Armut, Hunger und Kälte zwingen viele Familien, die Kinder früh zum Mitverdienen einzubeziehen. Auch Mathilde kann nicht verhindern, dass ihr Sohn Ludwig durch Austragen von Brötchen und Zeitungen und andere Hilfsarbeiten zum kärglichen Einkommen beiträgt. Als er seiner kleinen Schwester Ida den schweren Wagen mit gewaschener Kleidung, die sie austragen soll, abnimmt, verunfallt er und stirbt. Die Schuldgefühle drücken Mathilde derart nieder, dass sie beinahe daran zerbricht. Ihr Mann ist dem Alkohol verfallen, und so ist Mathilde auf sich allein gestellt. Als eine begüterte Frau, die keine Kinder bekommen kann, Mathildes jüngstes Kind Marianne zu sich nehmen will, bleibt Mathilde nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie kann ihre Kinder nicht mehr versorgen. Vor Scham bricht sie in dieser Zeit den Kontakt zu Emma ab.
Emmas Leidenschaft sind Gedichte, im Schreiben sieht sie ihre eigentliche Berufung, aber das wird eher mit Unverständnis gesehen. Und auch ihr politisches Engagement für die Rechte von Frauen und Kindern weckt nicht überall Zustimmung. Aber Emma hat zu viel Leid und Not gesehen – in den Armenhäusern, in den Kinderheimen, in den Fabriken und den Arbeiterfamilien. Sie kämpft dafür, dass sich das ändert. Und in diesem Kampf finden schließlich auch die Freundinnen Emma und Mathilde wieder zusammen.
Der Autorin Julia Kröhn haben für ihren Roman drei historische Frauenfiguren als Vorlage gedient: Emma Döltz, Clara Grundwald und Eglantyne Jebb. Alle drei setzten sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Rechte von Kindern ein. Vermutlich sind sie sich nie begegnet. Aber Julia Kröhn gelingt es großartig, das Engagement der drei Frauen mit einer anrührenden Familiengeschichte zu verweben und so den Roman zu einem packenden Zeugnis jener Zeit zu machen.
Julia Kröhn
Papierkinder
Blanvalet Verlag 2023, 558 Seiten, 24,00 Euro
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