Gastfreundschaft ist gelebte Nächstenliebe
„Gastfreundschaft ist kein einmaliges stressiges Abendessen mit Freunden und Bekannten, Gastfreundschaft ist eine innere Haltung“, schreibt Pfarrer Jochen Roth (Arpke) in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Lutherische Kirche“ (12/2016) der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). In der Bibel finden sich zahlreiche Vorlagen dafür.
Gäste zu haben bedeutet für viele Menschen einfach nur Stress. Da muss das Haus aufgeräumt werden, die Toiletten geputzt, das gute Geschirr rausgeholt und am besten noch ein besonderes Essen aufgefahren werden. Wenn gar der Pastor eingeladen ist, wird vielleicht sogar die verstaubte Familienbibel aus dem Schrank geholt und abgestaubt ...
Doch Gastfreundschaft ist kein einmaliges stressiges Abendessen mit Freunden und Bekannten. Gastfreundschaft ist eine innere Haltung. Es ist eine grundsätzliche Bereitschaft, seine eigenen vier Wände der Begegnung mit Menschen zu öffnen: Das können Freunde sein, es schließt aber auch gerade Fremde mit ein! In der Bibel finden sich zu diesem Thema einige interessante Aspekte.
Abrahams Herz für die Fremden
Im Buch Genesis (1. Mose 18,1-8) wird eine Geschichte erzählt, wie drei Fremde in der größten Mittagshitze bei Abraham auftauchen. Abraham kennt diese Leute nicht, doch anstatt ihnen mürrisch einen „Guten Tag“ zu wünschen oder sie gar wegzujagen, beugt er sich vor ihnen nieder und bittet sie, seine Gäste zu sein. Er bewirtet sie in orientalischer Weise. Es wird groß aufgetischt. Man kann sich die Betriebsamkeit im Hause Abrahams bildlich vorstellen: Da wird Wasser gebracht, damit sich die Gäste waschen können, Sara backt Brot und Kuchen, es wird ein Kalb geschlachtet, dazu gibt es Butter und Milch. Abraham stellt seine gesamte Tagesplanung um, um Zeit für seine Gäste zu haben. Dass es sich bei den Fremden um drei Engel handelt, weiß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Er praktiziert einfach Gastfreundschaft, wie er sie gelernt hat und wie er sie wohl jedem anderen auch hätte zukommen lassen. Dass er dabei Engel bei sich aufgenommen hat, war ihm nicht klar. Darum ging es ihm auch nicht.
Gastfreundschaft ist gelebte Nächstenliebe
Im Neuen Testament finden sich ebenfalls einige Hinweise darauf, dass Christen Gastfreundschaft praktizieren sollen. So ermahnt der Autor des Hebräerbriefs ausdrücklich: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ (Hebräer 13,2) Natürlich soll das nicht die Motivation für Gastfreundschaft sein, den einen oder anderen Engel bei sich unter seinem Dach zu bewirten. Aber es zeigt, dass Gastfreundschaft mehr ist, als einfach nur eine nette Geste: Es ist gelebte Nächstenliebe. Für diese Art der Nächstenliebe braucht es keine professionelle Diakonie, keinen Kirchenvorstandsbeschluss, keine langjährige theologische Ausbildung und kein großes Haus mit teurer Einbauküche. Seine Haustür zu öffnen und Menschen einzuladen, das kann jeder. Dabei geht es eben nicht darum, ein Essen in ausschweifender orientalischer Opulenz zu kredenzen. Es geht einfach darum, Gemeinschaft zu haben, Zeit zu schenken, sich zu begegnen, den anderen kennenzulernen und sich immer wieder überraschen zu lassen, wen man denn da vor sich hat. Vielleicht begegnet man auf diese Weise tatsächlich dem einen oder anderen Engel.
Gastfreundschaft ist die Basis für Begegnung
Jesus hat immer wieder die Gastfreundschaft von Menschen in Anspruch genommen. Man achte bei der Lektüre der Bibel mal darauf, wie viele Geschichten, Gleichnisse und Predigten Jesus im Kontext von Tischgemeinschaften erlebt und erzählt hat. Ein Haus, in dem Jesus oft und gern zu Gast war, war das der Geschwister Lazarus, Maria und Martha. Eine Begebenheit sticht hier besonders heraus, aus der man auch viel über Gastfreundschaft lernen kann (Lukas 10,38-48) und die auch oft in der Kunstgeschichte als Gemälde umgesetzt wurde. Jesus war wieder einmal bei den drei Geschwistern eingeladen. Martha wollte, dass es Jesus gut geht. Darum stellte sie sich in die Küche und bereitete ein großes Essen vor, wie es damals auch üblich war. Ihre Schwester Maria dagegen sucht die Gemeinschaft mit Jesus. Beide praktizieren Gastfreundschaft. Martha durch ihre Arbeit in der Küche, Maria, indem sie Zeit mit dem Gast verbringt. Beide haben die Wahl, wie sie ihre Gastfreundschaft zum Ausdruck bringen wollen. Ich finde diese Beobachtung sehr entlastend, weil sie den Druck nimmt, unbedingt erst einmal klar Schiff machen zu müssen in der Wohnung oder sich stundenlang in die Küche zu stellen. Gastfreundschaft kann auch sein, dass ich mir einfach Zeit nehme für meinen Gast und mit ihm einen Kaffee trinke.
Dennoch übersieht Jesus auch nicht die Wichtigkeit von körperlichen Bedürfnissen. Als bei der Bergpredigt die Leute Hunger bekommen (und damit wohl auch die Aufmerksamkeit deutlich abnimmt), sorgt er mit einem Speisungswunder für volle Bäuche, so überliefert es etwa der Evangelist Johannes (Johannes 6,1-15).
Gastfreundschaft als Herausforderung für die Nachfolge
Gastfreundschaft zu praktizieren ist das eine. Sich auf die Gastfreundschaft anderer einzulassen ist das andere. Als geistliche Übung und um den Menschen die Nachricht vom kommenden Reich Gottes weiterzusagen, schickt Jesus seine Jünger mittellos auf Wanderschaft (Matthäus 10,5-10). Sie sind dabei ganz auf die Großzügigkeit und Gastfreundschaft von anderen Menschen angewiesen. Das kann für manchen eine noch größere Herausforderung darstellen. Etwas annehmen, sich beschenken lassen, ohne dafür eine konkrete Sachleistung zurückgeben zu können. Jesu Jünger sollen sich allein auf die Wirkung der Botschaft verlassen, die sie in seinem Namen verkündigen! Für alles andere wird Gott sorgen. Gastfreundschaft hat eben eine geistliche Dimension, die bis hinein ins Abendmahl des Gottesdienstes reicht. Die beiden Jünger aus der Emmausgeschichte (Lukas 24,13-35) begegnen nach der Kreuzigung Jesu einem Fremden auf der Straße. Es ist Jesus, doch die beiden Männer erkennen ihn nicht. Die Jünger sind traurig. Sie kommen mit dem Mann ins Gespräch. Als langsam die Dunkelheit hereinbricht, laden sie den Fremden ein, mit ihnen zu essen. Als Jesus das Dankgebet über den Gaben spricht und das Brot bricht, erkennen sie plötzlich ihren Herrn. Diese Nähe von praktizierter Gastfreundschaft mit gemeinschaftlichem Essen und gottesdienstlicher Abendmahlsfeier wird auch an anderer Stelle deutlich.
Gott als Gast und Gastgeber
Eines der bekanntesten Tischgebete ist folgendes: „Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne alles, was du uns aus Gnaden bescheret hast.“ Ich habe mich immer über den Sinn dieses Gebetes gewundert. Wieso bitten wir Jesus zu uns an den Tisch, obwohl er uns doch alles „aus Gnaden bescheret hat“? Eine Erklärung könnte sein: In unserem Verhältnis zu Gott gilt beides gleichzeitig! Wir sind immer zugleich Gastgeber als auch Gast. In seiner Endzeitrede im Matthäusevangelium führt Jesus aus: „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben.“ Ohne sich dessen bewusst zu sein, haben diejenigen, die vor Gott als gerecht gelten, Gastfreundschaft gewährt und damit Jesus selbst aufgenommen. Als Gäste Gottes sind wir aber auch eingeladen, zum rauschenden Fest an Gottes Tisch zu kommen. So erzählt es Jesus in seinem Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl. Das besondere an diesen Gästen ist, dass sie nichts Besonderes sind. Sie verdanken ihre Einladung einfach der Großherzigkeit des Gastgebers. Von diesem rauschenden Fest in Gottes Herrlichkeit hergedacht, sind wir als Gäste Gottes reich beschenkt! Vielleicht kann dies eine Motivation sein, selbst die Türen seines Hauses zu öffnen und Gäste willkommen zu heißen.
Fragwürdige „Glaubensprüfungen“ von christlichen Flüchtlingen
Interview mit Pfarrer Dr. Gottfried Martens
Abwegige Fragen, absurde Übersetzungen, willkürliche Entscheide: Die Klagen über die Anhörungen von christlichen Flüchtlingen, die vom Islam konvertiert sind, durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) häufen sich. Im Interview erläutert Pfarrer. Dr. Gottfried Martens von der Dreieinigkeits-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Berlin-Steglitz die Missstände.
Herr Pfarrer Martens, in letzter Zeit häufen sich nicht nur in Ihrer Gemeinde die Klagen von christlichen Flüchtlingen, die vom Islam konvertiert sind, über Anhörungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Was sind die hauptsächlichen Beschwerden?
Immer wieder klagen die christlichen Flüchtlinge über die völlige Willkür, die bei diesen Anhörungen herrscht. In diesem Jahr hat das BAMF viele neue Anhörer/innen in Schnellkursen von wenigen Wochen ausgebildet. Diese haben nicht nur wenig Kenntnisse über die Situation der Christen im Iran und Afghanistan, sondern auch kaum Vorgaben, wie sie die Anhörungen durchführen sollen. Da gibt es Anhörer/innen, die einen Flüchtling mehr als zehn Stunden lang in die Mangel nehmen, jedes Detail seines Vortrags in Frage stellen und stundenlange Glaubensverhöre durchführen. Andere Anhörungen dauern nur 45 Minuten, und in ihnen hat der christliche Flüchtling überhaupt keine Chance, ausführlicher über seinen Glauben zu sprechen. Ein Hauptproblem besteht darin, dass die meisten Anhörer/innen selber praktisch keine Ahnung vom christlichen Glauben haben. Manche kennen nicht einmal den Unterschied zwischen dem Glaubensbekenntnis und dem Vaterunser. Dies spiegelt sich dann wider in den Fragen, die in keiner Weise dazu dienen, die Ernsthaftigkeit der Konversion zum christlichen Glauben zu erfassen. Es gibt auch Anhörer/innen, die aus der Anhörung geradezu ein Tribunal machen, weil sie von vornherein nicht glauben, dass ein Muslim ernsthaft Christ werden kann. Und dann gibt es leider auch die Anhörer/innen, die sich in der Anhörung offen über den christlichen Glauben der Flüchtlinge lustig machen und sie verhöhnen, wenn sie etwa darüber reden, dass Jesus für ihre Sünden am Kreuz gestorben ist.
Das BAMF führt nach eigener Auskunft keine „Religionsprüfungen“ durch. Gleichwohl werden die Asylbewerber nach ihrem christlichen Glauben befragt. Was wollen die Befrager denn beispielsweise wissen?
Die häufigste Frage ist die nach den christlichen Feiertagen. Dabei geht es vielen Anhörer/innen jedoch mehr um Termine und deutsche Bräuche („Was steht Ostern in der Kirche auf dem Tisch?“) als um den christlichen Inhalt der Feste. Dann werden immer wieder die Unterschiede zwischen den Konfessionen abgefragt. Immer wieder werden die Flüchtlinge dafür kritisiert, dass sie nicht erst verschiedene Kirchen oder auch Religionen „ausprobiert“ und sich mit den konfessionellen Unterschieden auseinandergesetzt haben, um sich am Ende zu entscheiden. Wenn jemand gleich bei der lutherischen Kirche geblieben ist und nicht erst noch den Buddhismus oder die römisch-katholische Kirche näher kennengelernt hat, wird dies allein schon mitunter als eine Begründung für eine Ablehnung des Asylantrags angeführt. Dafür, dass iranische und afghanische Christen erst einmal schlicht und einfach eine Kirche suchen, in der sie das Evangelium in ihrer Muttersprache hören können, und sich mit der deutschen konfessionellen Landschaft natürlich vorher nicht näher auseinandergesetzt haben, haben die meisten Anhörer/innen keinerlei Gespür. Und erst recht haben sie selbstverständlich von der Existenz einer lutherischen Bekenntniskirche keine Ahnung. Doch oftmals geht es in den Anhörungen noch viel absurder zu: Da wird etwa ein 60jähriger Asylbewerber, der noch ziemlich neu in Deutschland ist, danach gefragt, worüber der Pastor am letzten Sonntag gepredigt hat. Natürlich konnte er die Predigt noch nicht verstehen. Doch damit war die Befragung über den christlichen Glauben auch schon beendet. Andere Anhörer/innen fragen danach, woran Martin Luther gestorben ist, wie die Namen der beiden Söhne im Gleichnis vom Verlorenen Sohn lauten oder aus welchem Anlass Königin Margarete von Dänemark einen Besuch in Wittenberg durchgeführt hat. Ich könnte diese Liste von absurden Fragen noch beliebig verlängern. Die Grenzen zwischen Hilflosigkeit der Anhörer/innen und blanker Arroganz und Schikane sind da oft fließend.
Ein großes Problem stellt offenbar auch die Übersetzung während der Befragung dar. Können Sie das erläutern?
Mit der enormen Aufstockung der Anhörer/innen ging natürlich auch eine erhebliche Aufstockung der Dolmetscher einher. Doch mehr als 90% der Dolmetscher haben von dem grundlegenden Vokabular des christlichen Glaubens geschweige denn von den Gedankengängen des christlichen Glaubens kaum eine Ahnung. Sie sind entweder muslimisch geprägt oder atheistisch. Entsprechend absurd fallen dann die Übersetzungen immer wieder aus. Aus dem Heiligen Abendmahl wird dann beispielsweise immer wieder das „Mittagessen nach dem Gottesdienst“, oder es wird umschrieben mit den Worten: „Nach dem Gottesdienst essen wir Kuchen und trinken Schnaps.“ Selbst die Namen der christlichen Feiertage sind vielen Dolmetschern völlig unbekannt – und wenn sie dann übersetzen sollen, was ein christlicher Flüchtling, oft mit Zitaten von Bibelstellen und ähnlichem, über seinen Glauben sagt, kapitulieren sie häufig und fassen all dies in ein, zwei nichtssagenden Sätzen zusammen, in denen vom Kern des christlichen Glaubens nichts mehr zu erkennen ist. Auch die Übersetzungen der Fragen der Anhörer/innen sind oft so unsinnig, dass die Protokolle Dokumente einer einzigen völlig missglückten Kommunikation sind. Natürlich können die Dolmetscher auch ihre geprägte religiöse Diktion nicht einfach ablegen. Vor wenigen Tagen berichtete mir ein afghanisches Gemeindeglied, das schon gut Deutsch spricht, dass es in der Anhörung immer wieder dazwischengehen musste, wenn der Dolmetscher das Wort „Jesus Christus“ mit „der Prophet Jesus“ wiedergab. Bei Flüchtlingen, die nicht so gut Deutsch verstehen, kann dann allein schon diese falsche Wiedergabe bei der Ablehnung des Asylantrags als Beleg dafür angeführt werden, dass sich der Antragsteller offenbar noch nicht genügend vom Islam distanziert habe. Und dann gibt es natürlich auch die Dolmetscher, die ganz offen christenfeindlich sind, falsch übersetzen, sich weigern, islamkritische Aussagen wiederzugeben und darauf bedacht sind, die Glaubensverräter „hereinzureißen“.
Von den Anhörungen werden Protokolle angefertigt. Ist das nicht ein probates Instrument, um die Anhörungen transparent zu machen?
In den Protokollen kann ohnehin nur wiedergegeben werden, was die Dolmetscher zuvor übersetzt haben. Und dies wird dann von den Anhörer/innen oftmals noch weiter „kondensiert“, weil sie an dem ganzen „frommen Gedöns“, was die christlichen Flüchtlinge von sich gegeben haben, überhaupt nicht interessiert sind. Dazu kommt, dass den Flüchtlingen immer wieder die Rückübersetzung des Protokolls, die ihnen eigentlich zusteht, verwehrt wird, indem sie entweder moralisch unter Druck gesetzt werden („Sie werden doch wohl dem Dolmetscher vertrauen, der für Sie übersetzt hat“) oder sie gleichsam überrumpelt werden, indem ihnen am Ende der Anhörung einfach das Protokoll zur Unterschrift unter die Nase gehalten wird. Dass die Flüchtlinge damit unterschreiben, dass sie freiwillig auf die Rückübersetzung verzichtet haben, wissen sie in aller Regel nicht. Mitunter verweigern die Anhörer/innen auch ganz offen die Rückübersetzung oder die Ergänzung von Ausführungen der Flüchtlinge und „frisieren“ das Protokoll anschließend um. So können die Flüchtlinge in dem Protokoll oftmals kaum das wiedererkennen, was sie in der Anhörung gesagt haben. Leider sind nur wenige dazu in der Lage, sich hiergegen in der Anhörung selber zur Wehr zu setzen. Die Anhörer/innen sind dabei Täter und Opfer zugleich, denn sie erhalten von oben Vorgaben über die Zahl der durchzuführenden Anhörungen, die völlig illusorisch sind.
Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück, dass christliche Flüchtlinge vermehrt ablehnende Bescheide erhalten?
Ein strukturelles Problem besteht darin, dass man im BAMF seit einiger Zeit die Funktion der Anhörer/innen und Entscheider/innen voneinander getrennt hat. Die Entscheidungen über die Asylanträge werden von Menschen getroffen, die nur die oftmals auch noch sehr fragwürdigen Protokolle vor sich liegen haben und den Menschen, über den sie zu entscheiden haben, niemals gesehen haben. Dies führt natürlich immer wieder zu grotesken Fehlentscheidungen, von denen viele treue und engagierte Glieder unserer Gemeinde betroffen sind. Dazu kommt, dass es seit dem Sommer dieses Jahres offenkundig Vorgaben von oben gibt, vor allem die Asylbegehren iranischer Konvertiten negativ zu bescheiden. Dazu werden den Entscheider/inne/n fertige Satzbausteine vorgegeben, die sie für jeden Asylantrag eines christlichen Konvertiten von vornherein gebrauchen können und die ich regelmäßig wortwörtlich in den Abschiebebescheiden lese. Darin steht, dass ja mittlerweile fast jeder iranische Asylbewerber angibt, Christ zu sein. Dies allein zeige schon, dass man nicht von einer Ernsthaftigkeit der Hinwendung zum christlichen Glauben ausgehen könne. Dies wird dann verbunden mit einem Bashing der Freikirchen, unter die dann auch gleich unsere SELK subsumiert wird, als ob diese Kirchen gleichsam Selbstbedienungsläden für die Taufe seien und die Taufen unbesehen bei jedem durchführen würden, der einfach nur einen Asylgrund braucht. In letzter Zeit wird dieses Bashing auch noch personalisiert: Immer wieder lese ich in negativen Bescheiden, dass schon allein die Tatsache, dass der Asylbewerber sich an die Gemeinde von Pastor Martens gewandt habe, deutlich macht, dass das Asylbegehren nicht ernsthaft sein kann. Entsprechend werden auch die ausführlichen seelsorgerlichen Bescheinigungen, die ich für die Gemeindeglieder schreibe, in vielen Fällen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder im Gegenteil zuungunsten der Asylbewerber ausgelegt: Wenn der Pastor schon die Ernsthaftigkeit der Hinwendung zum christlichen Glauben so deutlich betont, ist dies allein schon ein Indiz dafür, dass das Gegenteil richtig sein muss, wird dann erklärt. Dazu kommt, dass in letzter Zeit viele Entscheider/innen ganz deutlich die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschreiten, wenn sie etwa erklären, die Taufe sei für das Christsein nicht wichtig, oder der Glaube daran, dass Jesus Christus für uns Menschen am Kreuz zur Vergebung der Sünden gestorben sei, sei kein Grund zur Konversion, weil auch Allah barmherzig sei. Wenn noch nicht einmal das Vorbringen des Zentrums des christlichen Glaubens als Asylgrund anerkannt wird, wie soll dann noch ein Asylantrag eines Christen positiv beschieden werden?
Lange Zeit wurde von staatlicher Seite, aber auch von den großen Kirchen, behauptet, Ausgrenzung, Bedrohungen und Übergriffe gegen christliche Bewohner von Asylunterkünften seien lediglich Einzelfälle. Jetzt scheint sich die Lage dieser Flüchtlinge weiter zu verschärfen, weil sie immer öfter zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden sollen. Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um Flüchtlinge, die vom Islam zum christlichen Glauben konvertieren, hier in Deutschland besser zu schützen?
Die Hoffnung, dass christliche Konvertiten in den Asylbewerberunterkünften unseres Landes wirksam geschützt werden, habe ich mittlerweile aufgegeben. Zu massiv ist die Front der großen christlichen Kirchen und der politischen Parteien, die diese Problematik immer wieder aus ideologischen Gründen systematisch herunterspielen und die Aussagen der Christen in geradezu unerträglicher Weise in Frage stellen. Gerade am Abend dieses Interviews sind wieder zwei treue Gemeindeglieder zu uns gekommen, die gerade aus ihrem Heim geworfen wurden. Sie waren von muslimischen Mitbewohnern tätlich angegriffen und als Ungläubige explizit mit dem Tod bedroht worden. Als sie sich darüber bei der Heimleitung beschwerten, erhielten sie Hausverbot – es ist immer wieder derselbe Ablauf. Doch was im Augenblick so vielen christlichen Konvertiten beim BAMF widerfährt, ist für sie natürlich noch furchtbarer als die Erfahrung, in den Heimen als Christen völlig im Stich gelassen zu werden. Ich würde mir wünschen, dass im BAMF überhaupt erst einmal eine Sensibilität für die von mir – und ja längst nicht nur von mir – geschilderten Probleme erkennbar wird. Dies würde bedeuten, dass das BAMF mit den christlichen Kirchen in einen Dialog darüber eintritt, was es da eigentlich in seinen „Glaubensprüfungen“ tut – was angemessen ist und was nicht. Dies würde weiter bedeuten, dass Anhörer/innen von christlichen Flüchtlingen selber im christlichen Glauben zu Hause sind und von daher überhaupt ein sinnvolles Gespräch über den Glauben führen können. Dies würde weiter bedeuten, dass die Dolmetscher Grundkenntnisse des christlichen Glaubens mitsamt dem dazugehörigen Vokabular besitzen. Es würde weiter bedeuten, dass die Trennung von Anhörer/innen und Entscheider/innen rückgängig gemacht wird. Und es würde schließlich bedeuten, dass die Überprüfung des systemischen Versagens des BAMF in der Anhörung christlicher Konvertiten nicht auf dem Rücken der bereits völlig überlasteten Verwaltungsgerichte ausgetragen werden sollte, die im Augenblick mit Klagen abgelehnter christlicher Asylbewerber überschwemmt werden. Hier sollten andere Klärungsgremien geschaffen werden, in denen die Bescheinigungen von Seelsorgern, die die Antragsteller oft über viele Monate oder Jahre hinweg intensiv begleitet haben, eine mindestens ebenso große Rolle spielen wie die oft wenig aussagekräftigen Anhörungsprotokolle. Ob eine faire Behandlung der christlichen Konvertiten jedoch überhaupt politisch gewollt ist, daran habe ich zunehmend meine Zweifel.
Die Fragen stellte Doris Michel-Schmidt.
Dies Academicus
Wir glauben, lehren und bekennen
Am diesjährigen Dies Academicus der Lutherischen Theologischen Hochschule der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) ging es um die Bedeutung der lutherischen Bekenntnisschriften. Das Verhältnis von Heiliger Schrift und Bekenntnis wurde dabei – nicht ganz unerwartet – durchaus unterschiedlich bewertet.
Selbst Kritiker einer strikten Bekenntnisbindung würden sich auf die Bekenntnisse berufen, nämlich auf die Unterscheidung des Bekenntnisses als „norma normata“ (normierte Norm) von der Heiligen Schrift als „norma normans“ (normierende Norm), sagte Prof. Dr. Bernd Oberdorfer von der Universität Augsburg einleitend in seinem Referat. Sein Vortrag stand unter dem gleichen Titel wie der sich anschließende von Prof. Dr. Werner Klän von der gastgebenden Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel: „Das Wort Gottes, die Heilige Schrift und das Bekenntnis der lutherischen Kirche – Grundfragen ihres Verhältnisses und ihrer Hermeneutik“. In diesem gleichen Titel drücke sich die Erwartung aus, so Oberdorfer, dass die beiden Vorträge nicht dasselbe sagen würden, gleichzeitig aber, dass sie einander doch etwas zu sagen hätten.
Oberdorfer, als Vertreter der VELKD, fragte nach einer kritischen Überprüfung der Aussagen der Bekenntnisse: „Wie vollzieht sich die von den Bekenntnissen selbst angeordnete Überprüfung der Bekenntnisse an der Heiligen Schrift“? Man könne das Verhältnis von Schrift und Bekenntnis unterschiedlich akzentuieren, sagte Oberdorfer und folgerte seinerseits: „Die Bekenntnisse stehen unter dem Vorbehalt ihrer Schriftgemäßheit. Sie gelten nicht, weil sie gelten. Sie müssen sich vielmehr der offenen Überprüfung im Licht der Schrift stellen.“ Und er wies dabei auch auf den historischen Kontext ihrer Entstehung hin: „Warum sollten wir heute Texten Verbindlichkeit zuschreiben, denen ihre Entstehung unter den kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen des 16. Jahrhunderts gleichsam ins Angesicht geschrieben ist?“ Im Luthertum stelle sich diese Frage in zugespitzter Form, so Oberdorfer, weil es die Bekenntnisbildung grundsätzlich mit dem Konkordienbuch abgeschlossen habe, „während die reformierte Tradition mit einer prinzipiell unabschließbaren Sequenz neuer Bekenntnisse“ rechne.
Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen räumten den Grundeinsichten der Bekenntnistexte einen „gewissen hermeneutischen Vertrauensvorschuss“ ein, konstatierte der Professor für systematische Theologie. Das schließe aber nicht aus, sondern gerade ein, dass diese Texte interpretiert werden müssten.
In Bezug auf die Leuenberger Konkordie, erläuterte Oberdorfer die Sichtweise der EKD: „Leuenberg“ formuliere einen Konsens, der es ermögliche, die verbleibenden Differenzen zwischen lutherischer und reformierter Bekenntnistradition als nicht mehr kirchentrennend aufzufassen und auf dieser Basis Kirchengemeinschaft auszusprechen. Leuenberg sei kein Unionsbekenntnis und auch nicht der hermeneutische Schlüssel für die Interpretation der lutherischen Bekenntnisse, so Oberdorfer. Es schließe aber solche Interpretationen der lutherischen Bekenntnisse aus, „die weiterhin einen kontradiktorischen Widerspruch zur reformierten Tradition“ konstatierten.
Dem widersprach Prof. Dr. Werner Klän von der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel in seinem Referat und erläuterte seinerseits kritisch den „systematischen Kunstgriff“ in der Leuenberger Konkordie, die zwischen „Grund“ und „Ausdruck“ des Glaubens unterscheidet. Nur dadurch, so Klän, wurde es möglich, die historischen Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts in ihrer heutigen Relevanz, vor allem im Blick auf Lehrverurteilungen, zu relativieren. Indem allein dem „rechtfertigenden Glauben“ grundlegende und zentrale Bedeutung zugemessen und folglich er allein als zur Begründung kirchlicher Gemeinschaft notwendig angesehen wurde, während die lehrhafte Formulierung solchen Glaubens, etwa im Bekenntnis der Kirche, in den Bereich des „Ausdrucks“ gehöre. Vor diesem Hintergrund sei ein Konsens im Glauben, Lehren und Bekennen dann nicht länger Voraussetzung für die Erklärung von Kirchengemeinschaft.
Klän wies außerdem darauf hin, dass die Leuenberger Konkordie in der EKD zweifellos Bekenntnischarakter habe. Dadurch, dass die Aufnahme des Augsburger Bekenntnisses in die Grundordnung der EKD mit der Begründung abgelehnt werde, diese stelle einen „Rückfall hinter die Orientierung an der Leuenberger Konkordie“ dar, werde das Augsburger Bekenntnis, dort wo es lutherische Landeskirchen in ihren Grundordnungen aufführten, faktisch der Leuenberger Konkordie untergeordnet.
Klän führte aus, dass und warum eine Kirchengemeinschaft ohne lehrmäßige Übereinstimmung aus Sicht der SELK für lutherische Kirchen kein denk- und gangbarer Weg ist.
Er betonte auch, die Bekenntnisse der lutherischen Reformation in Gestalt des Konkordienbuches stünden deshalb in Geltung, „weil sie angemessener Ausdruck der in der Heiligen Schrift beurkundeten Wahrheit des Wortes Gottes und darum verbindlich für das sind, was in Lehre und Leben der Kirche gelten soll.“ Und dazu gehöre aus Sicht der SELK auch „die Behauptung eines unauflöslichen Zusammenhangs der Übereinstimmung im Glauben, Lehren und Bekennen mit dem Vollzug gottesdienstlicher, zumal eucharistischer Gemeinschaft.“
„Die Bekenntnisse umschreiben damit zugleich einen Raum, einen Rahmen, in dem kirchlich legitime Verkündigung möglich ist“, so Klän. Bei jeder Predigt, beim kirchlichen Unterricht, in der Ausbildung des kirchlichen Nachwuchses sei der Nachweis der Übereinstimmung mit den bestimmenden Grundlagen gesetzt und darum auch gefordert.
Bei aller unterschiedlicher Bewertung suche die SELK mit anderen Kirchen in gründlicher theologischer Arbeit nach der Überwindung des Trennenden, sagte Werner Klän, der zusammen mit Bernd Oberdorfer das Symposium leitete. Die SELK wisse sich bleibend verpflichtet zu „ökumenischer Verantwortung“. Klän: „Das heißt, sie vertritt ihre Positionen konkordienlutherisch profiliert im Rahmen ökumenischer Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen. Sie verschweigt dabei einerseits nicht die noch vorhandenen kirchentrennenden Unterschiede und überspringt nicht leichtfertig die dadurch gesetzten Grenzen. Die Gestaltung kirchlicher Einheit hat vielmehr dem Maßstab des Evangeliums zu entsprechen, wie es im Konsens kirchlich verbindlicher Lehre zum Ausdruck kommt.“
Predigt als Seminar-Thema
Im Herbstkurs des Praktisch-Theologischen Seminars (PTS) der Selbständigen Evangelischen Kirche (SELK) stand für die Vikare das Thema Predigt im Mittelpunkt. SELK.de hat dazu den Leiter des PTS, Pfarrer Hans-Heinrich Heine (Hermannsburg) befragt.
Im PTS ging es diesmal schwerpunktmäßig um die Predigt. Welche Fragen standen dabei im Mittelpunkt?
Heine: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich ein Prediger einem Bibelwort nähert, um es seiner Gemeinde zu verkündigen. Das nennen die Theologen Homiletik, die Lehre der Predigt. In diesem PTS-Kurs wurden unterschiedliche homiletische Zugänge erprobt. Dabei gibt es natürlich auch Grundregeln, die für jeden Zugang gelten und die in jedem Fall beachtet werden müssen. Zum Beispiel: Kurze Sätze, viele Verben und keine abstrakten Formulierungen verwenden.
Auch spielt die Prägung des Predigers durch den Heimatpastor oder andere Prediger eine nicht zu unterschätzende Rolle. Kein Prediger, auch wenn er noch am Anfang seiner Predigtlaufbahn steht, ist ein homiletisch unbeschriebenes Blatt. Dessen muss sich jeder „Predigt-Azubi“ bewusst werden.
Ein zweiter Schwerpunkt lag darin, die ersten eigenen Predigterfahrungen aus dem Vikariat zu reflektieren und eigene Predigten genau unter die Lupe zu nehmen.
Das Schreiben einer Predigt und das Halten einer Predigt sind ja zweierlei. Wie lernen die angehenden Pfarrer das Predigtschreiben?
Heine: Das Schreiben einer Predigt lernen die Vikare im Studium. Da wird an der Lutherischen Theologischen Hochschule in Oberursel ein grundsolides Fundament gelegt. Die Studenten bekommen dort einen guten „Werkzeugkoffer“ in die Hand, mit dem sie Schritt für Schritt eine Predigt erarbeiten. Das kann man sich ganz handwerklich vorstellen: In der Exegese arbeitet der Prediger den Rohling, die Hauptaussage und die Absicht des Bibeltextes heraus. Dann wird das Bibelwort in seinen theologischen Zusammenhang gestellt und die Gemeindesituation bedacht. So bekommt die Predigt langsam Gestalt. Hat der Predigt-Handwerker dann eine übersichtliche Gliederung erarbeitet, ist das schon mehr als die halbe Predigt!
Und wie lernt man das „Präsentieren“?
Heine: Die am Schreibtisch erarbeitet Predigt zu halten, sich damit vor die Gemeinde zu stellen, ist ebenfalls, wie gesagt, reines Handwerk. Und wie für jedes Handwerk gilt auch hier: üben, üben, üben. Dabei ist jeder Prediger unbedingt auf Rückmeldung angewiesen. Hier ist das PTS eine große Hilfe. Jede dort gehaltene Predigt wird in einem Predigtnachgespräch analysiert. Predigtnachgespräche in der Gemeinde sind im Übrigen auch für erfahrene Prediger eine gute Hilfe noch besser zu werden!
Was wird dabei von den Vikaren als besonders schwierig (oder auch besonders beglückend) empfunden?
Heine: Eine besondere Schwierigkeit scheint darin zu liegen, aus einer „Schreibe“ eine „Spreche“ zu machen. Das heißt, theologisch gewichtige Aussagen in einfacher Sprache zu formulieren. Im Studium haben die Studenten unter Mühen gelernt, sich auf hohem intellektuellem Niveau wissenschaftlich korrekt auszudrücken. Nun aber müssen sie wieder lernen, „dem Volk aufs Maul zu schauen“. Wenn das gelingt und der Prediger nach dem Gottesdienst als Rückmeldung bekommt: „Heute habe ich das endlich mal verstanden!“ – dann ist das äußerst beglückend!
Was gehört zu einer guten Predigt-Vorbereitung?
Heine: Um nicht über die Köpfe der Gemeindeglieder hinweg zu predigen, muss der Prediger sowohl die „Großwetterlage“ als auch die Lage vor Ort in den Blick nehmen.
Das heißt, er sollte sich über die großen gesellschaftlichen Themen informieren, wahrnehmen, worüber alle Welt redet. Dies erfährt er aus den Medien.
Genauso muss er aber auch darüber Bescheid wissen, was die Menschen vor Ort bewegt. Das geht aber schlecht vom Schreibtisch aus! Also: Raus aus dem Arbeitszimmer und hin zu den Leuten und zuhören, zuhören, zuhören.
Welches Ziel hat eine Predigt?
Heine: Predigt hat eigentlich nur ein Ziel: Sie will trösten. Das, was wir den Leuten zu sagen haben, erfahren sie sonst nirgendwo anders.
Einem jungen Prediger wird es vielleicht leichter fallen, junge Familien anzusprechen als die älteren Gottesdienstbesucher. Welche unterschiedlichen „Zielgruppen“ gilt es bei der Predigt zu berücksichtigen und worauf müssen die Vikare da achten?
Heine: Natürlich sind der Alltag eines Konfirmanden und einer Rentnerin kaum zu vergleichen. Und auch die Fragen und Nöte der Menschen sind so vielfältig wie das Leben. Das wird der Prediger im Blick behalten. Und er muss wissen: Ich werde nicht mit jeder Predigt jede Zuhörerin und jeden Zuhörer gleichermaßen erreichen.
Darum wird er beispielsweise in einem Familiengottesdienst besonders den Alltag von jungen Eltern in den Blick nehmen, während er zum Abschluss einer Kinderbibelwoche vielleicht gar nicht auf die Kanzel steigt, sondern sich zwischen die Kinder stellt und ihnen eine biblische Geschichte spannend erzählt. Jetzt am Ende des Kirchenjahres wird er gerade jenen Menschen Trost zusprechen, die in diesen Tagen die Gräber ihrer Angehörigen besuchen.
Gibt es in der Predigtlehre neue Methoden oder Konzepte, die man heute berücksichtigt – oder anders gefragt: Predigen Pfarrer heute anders als vor 40, 50 Jahren?
Heine: In den letzten 60 Jahren hat sich die Predigtlandschaft sehr verändert. Bestand nach den Erfahrungen zweier Weltkriege und dem offensichtlichen Versagen liberaler Hochschultheologie die Aufgabe der Predigt darin, dass allein Gott zu Wort kommen soll, so rückte ab Mitte der 60er Jahre immer mehr die Lebenssituation der Predigthörer in den Fokus der Predigtlehre. Die Beobachtung war, dass häufig theologisch sauber über die Köpfe der Hörer hinweg gepredigt wurde. Deshalb wurde nun bei der Predigtvorbereitung mehr Wert auf Humanwissenschaften wie Psychologie, Soziologie und Kommunikationswissenschaften gelegt. Die Situation des Menschen und der Gemeinde wurde zum Thema. Dieser theologischen Richtung wurde aber schnell Gottvergessenheit vorgeworfen.
Die sogenannte dramaturgische Homiletik, die heute an vielen Hochschulen und Predigerseminaren gelehrt wird, verbindet beide berechtigte Anliegen. In bildreicher und lebendiger Sprache wird dem Hörer Gottes Wort vor Augen gemalt.
Aber nicht nur die Predigten, auch die Hörgewohnheiten haben sich ja in den letzten Jahrzehnten stark verändert. So ist zu beobachten, dass die Predigten entsprechend der Aufnahmefähigkeit der Hörer deutlich kürzer geworden sind. Viele ältere Predigthörer erinnern sich noch gut an 40 Minuten (!) Predigtlänge oder mehr. Heute hat man sich gerade mal bequem hingesetzt, da ist der Pastor schon bei der Zusammenfassung!
Doch gestern wie heute gehört zur Predigtvorbereitung, neben handwerklich sauberer Arbeit, die Bitte um Gottes Heiligen Geist. Eine geistliche Aufgabe wie das Predigen gewinnt ihre Kraft nur auf einer geistlichen Grundlage. Deshalb kommt dem Gebet in der Predigtarbeit damals wie heute die größte Bedeutung zu. Frei nach Luther: „Bete, als ob alles Arbeiten an der Predigt nichts nützt und arbeite, als ob alles Beten nichts nützt!“
Die Fragen stellte Doris Michel-Schmidt
Katechismus auf Farsi erschienen
Bei der Lutherischen Kirchenmission in Bleckmar (LKM) ist jetzt eine erweiterte Ausgabe des Kleinen Katechismus Martin Luthers auf Farsi erhältlich. Für den Unterricht in den Gemeinden mit Farsi sprechenden Interessenten ein sehr willkommenes Hilfsmittel.
Das 176 Seiten umfassende Buch ist eine Übertragung des 1983 von Helmut Korinth in Hamburg erneut herausgegebenen Hannoverschen Katechismus von 1862 und enthält den Kleinen Katechismus Luthers mit ausführlichen Erklärungen und Bibelstellen zu den einzelnen Hauptstücken in Frage- und Antwortform. Die nummerierten Fragen sind im Anhang auf Deutsch abgedruckt, um auch Unterrichtenden, die kein Farsi sprechen, den Umgang mit dem Material zu ermöglichen.
Die Auflage wurde von der „Lutheran Heritage Foundation“ (LHF) und „Mission Central Mapleton, IA“ aus den USA finanziert. Die LHF ist mit der US-amerikanischen Schwesterkirche der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), der Lutheran Church–Missouri Synod, verbunden. Der Leiter der LHF, Rev. Matthew Heise, hat das neue Buch am 13. November in der Braunschweiger Paul-Gerhardt-Gemeinde offiziell vorgestellt und ein Exemplar an Bischof Hans-Jörg Voigt überreicht (Foto).
Bücher der LHF dürfen gemäß dem Stiftungsauftrag nicht verkauft, sondern nur verschenkt werden. Bestellungen nehmen entgegen die Verwaltung der LKM, Teichkamp 4, 29303 Bergen, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, sowie Missionar Hugo Gevers, Ehrensteinstraße 39, 04105 Leipzig, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Es wird gebeten, die Portokosten zu erstatten. (Lutherische Kirchenmission, IBAN DE09 2579 1635 0100 4239 00, Verwendungszweck: Versand LHF Katechismus Persisch). Bei Missionar Hugo Gevers in Leipzig ist auf Anfrage auch die deutschsprachige Vorlage des LHF-Katechismus erhältlich. Eine digitale Version ist in Planung.
Neben dieser Ausgabe des Katechismus können bei der Lutherischen Kirchenmission zwei weitere Unterrichtshilfen auf Farsi bezogen werden (ebenfalls gegen Erstattung des Portos):
• Der Kleine Katechismus mit Martin Luthers Erklärungen, Farsi-Deutsch, 40 Seiten, A5 geheftet
• „Glauben-Bekennen-Handeln“, Übertragung des Konfirmandenunterricht-Materials der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) von 1977 auf Farsi, 140 Seiten für A5-Ringbuch. (Restbestand, Neuauflage in Vorbereitung). Eine Kopie der deutschsprachigen Vorlage kann auf Anfrage mit bezogen werden.
So stehen für den Tauf- oder Konfirmationsunterricht unterschiedliche Materialien zur Verfügung, die einzeln oder einander ergänzend genutzt werden können.
Flüchtlinge als Herausforderung für christliche Gemeinden
39. Louis-Harms-Konferenz
„Was können wir für die hier kürzer oder länger bleibenden Flüchtlinge tun?“ Auf diese Frage gab es auf der 39. Louis-Harms-Konferenz am 12. November in den Räumen der Pella-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Farven sehr differenzierte Antworten. Weitgehender Konsens dabei war: Es braucht persönliche Kontakte, das gegenseitige Kennenlernen, um Unsicherheit und Angst abzubauen. Und: Hilfe muss zuerst ohne Absicht sein. Das Gespräch über den Glauben folgt dann automatisch, wenn Vertrauen gewachsen ist.
Anhand konkreter Beispiele wurden an der Konferenz Probleme und mögliche Lösungsansätze in der Arbeit mit Flüchtlingen aufgezeigt. Pastor Markus Kalmbach (Winsen/Luhe), früher Missionar in Südafrika, machte die Zusammenhänge deutlich zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung in einer globalisierten Welt und den Krisen und Kriegen, die Menschen zur Flucht zwingen. Unser Wohlstand hier im reichen Norden sei auch auf den Ressourcen des Südens errichtet worden, sagte Kalmbach und illustrierte dies mit eindrücklichen Beispielen. Wir dürften uns daher nicht wundern, wenn Menschen zu uns kommen. Das Problem seien nicht die Flüchtlinge, sagte der Referent: „Das Problem, die Ursache sind die vielen Kriege, der Terrorismus und die Folgen des Klimawandels. Die Flüchtlinge sind immer nur eine Folge.“ In Winsen/Luhe hatte der ehemalige Missionar das „Internationale Café“ mit initiiert, in dem sich nicht nur Gemeindeglieder engagieren. Vor Ort wird weitgehend anerkannt, dass dieses breit gefächerte Angebot wesentlich dazu beigetragen hat, dass es bisher keinerlei üble Zwischenfälle gab. Man habe das Projekt anfangs bewusst nicht missionarisch angefangen, so Kalmbach, aber jetzt, nach drei Jahren, würden sie häufig gefragt: Warum macht ihr das? Und so habe sich ein Gesprächskreis formiert mit Flüchtlingen, die mehr über den christlichen Glauben wissen wollten.
Ebenfalls engagiert berichtete Pastor i.R. Klaus Fitzner von Erfahrungen in Schwanewede, wo in einer Kaserne eine Massenunterkunft als Notbehelf eingerichtet wurde. Der seit 38 Jahren bestehende Runde Tisch, der sich immer um Flüchtlinge gekümmert hatte, wurde wieder aktiv. Die Behörden, die mit der Situation völlig überfordert waren, überließen den Ehrenamtlichen viel Freiräume und Verantwortung, so dass sie sich nicht nur um die äußeren Bedürfnisse kümmern konnten, sondern auch um die geistlichen. Sie richteten einen Raum der Andacht ein, legten christliche Literatur in Farsi und Arabisch aus und gaben Taufunterricht.
Für den erkrankten SELK-Pfarrer Thomas Seifert war SELK-Pfarrer i.R. Fritz-Adolf Häfner eingesprungen und berichtete über die Anfänge der Arbeit mit Iranern in Leipzig und die Entwicklung seither. Er schickte seinen Ausführungen eine kurze Rechtfertigung vom christlichen Zeugnis für Muslime voraus und erzählte dann von zwei Iranern, die durch viel Not und großem Risiko zu Christus gefunden und ihre neue Überzeugung glaubhaft gelebt haben, denen aber deutsche Richter dies absprachen, sodass sie wieder abgeschoben wurden.
Dass Migranten auch für andere, für uns, zum Segen werden können, klang in verschiedenen Beiträgen immer wieder an. Und nicht nur in der Bibelarbeit über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter wurde klar, dass all die Fluchtgeschichten in der Bibel aufzeigen, wie Gottes Heil sich ereignet – mitten in allem menschlichen Versagen.
Die rund 110 Teilnehmenden zeigten sich beeindruckt und betroffen von den erzählten Erfahrungen und den Informationen. „Louis Harms hätte sich über diese Konferenz gefreut!“, sagte Pfarrer i.R. Dr. Hartwig Harms (Hermannsburg | Foto), einer der Organisatoren, am Schluss der Konferenz. Er erinnerte an den Namensgeber der Konferenz, der damals, im 19. Jahrhundert, genauso mit dem Thema konfrontiert war. Hartwig Harms: „Die Worte ‚Flüchtling‘, ‚Migration‘ und ‚Asyl‘ waren zwar zu seiner Zeit noch nicht üblich. Doch die damit gemeinten Migrationsbewegungen waren damals genauso stark wie heute, und auch er hatte damit zu tun. Nur dass die Migration vor allem aus Deutschland heraus führte – nach Übersee – und man von ‚Auswanderung‘ sprach.“
Rechtfertigung heißt Vergebung der Sünden
Reformationsjubiläum 2017
In der lutherischen Theologie steht sie im Zentrum: die Rechtfertigung. Aber was bedeutet das eigentlich? Und was hat Rechtfertigung mit der Beichte zu tun? Im Gespräch darüber äußern sich der Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), Hans-Jörg Voigt, und Achim Behrens, Professor für Altes Testament an der Lutherischen Theologischen Hochschule der SELK in Oberursel.
In einem Referat sagten Sie, Bischof Voigt: „Wenn es stimmt, dass die Reformation ihren Ausgang nahm mit der Beicht- und Bußpraxis des ausgehenden Mittelalters, dann ist Reformationsgedenken Beichtgedenken“. Die Beichte steht also im Zentrum des Reformationsgedenkens?
Hans-Jörg Voigt: Der Anlass für dieses Reformationsjubiläum im nächsten Jahr sind ja die 95 Thesen Martin Luthers, die er 1517 veröffentlichte. Die erste dieser Thesen lautet: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen’, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Luther setzte also – auch mit seiner Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ – an bei der mittelalterlichen Beicht- und Bußpraxis. Es ist daher angemessen, wenn eine lutherische Kirche in ihrem Reformationsgedenken daran anknüpft. Nach der Konkordienformel in den lutherischen Bekenntnisschriften heißt rechtfertigen „gerecht und ledig von Sünden sprechen (absolvieren)“.
Darum auch ein Gottesdienst mit Sündenbekenntnis und Absolution als zentrale Gedenkveranstaltung der SELK zum Reformationsjubiläum 2017?
Voigt: Rechtfertigung geschieht in der Beichte, aber in vielen anderen Kontexten auch, zum Beispiel, wenn ich abends mit meiner Frau zusammen das Vaterunser bete und darin bitte: „Vergib uns unsere Schuld“ – dann geschieht da Rechtfertigung. Auch im Gottesdienst, beim Predigen oder Abendmahlfeiern geschieht Rechtfertigung. Mit dem Gottesdienst am 24. Juni 2017 in der Stadtkirche in Wittenberg setzen wir als Kirche bewusst einen Schwerpunkt. Der Gottesdienst steht unter dem Motto „Freude in Christus“. Christus allein schenkt Vergebung. Diese Vergebung, die Christus schenkt, wollen wir in einem Gottesdienst mit Sündenbekenntnis und Absolution feiern.
Achim Behrens: Ich bedaure gelegentlich die Engführung der Rechtfertigung auf Beichte in unseren Reihen. Mir liegt daran, das zu betonen, was der Bischof eben sagte: dass Rechtfertigung nicht auf Beichte allein eingeengt wird. Ich finde es gut, dass der Gottesdienst in Wittenberg unter dem Titel „Freude in Christus“ gefeiert wird. Es geht doch darum, das zu stärken, was lutherische Theologie ausmacht, und da steht tatsächlich die Rechtfertigung in der Mitte. Dieser Grundgedanke prägt das Gottesbild – und das Menschenbild lutherischer Christen. Dabei würde ich es nicht bei dem historischen Anlass des Thesenanschlags beziehungsweise der Anknüpfung an Luthers Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Beicht- und Bußpraxis belassen. Für viele sind der Akt der Beichte und auch die Form des Beichtgottesdienstes heute doch sehr „randständig“. Nicht dass ich das gut fände, aber man muss das Phänomen zur Kenntnis nehmen.
Die Beichte wird in der SELK hauptsächlich in der Form der Allgemeinen Beichte praktiziert – als eigene Beichtandacht vor dem Gottesdienst oder zu Beginn des Gottesdienstes. Wenn im Gottesdienst, im Abendmahl insbesondere, auch Vergebung geschieht: Was ist dann der „Mehrwert“ der Beichte?
Voigt: Die Beichte bringt ein höheres Maß an Vergewisserung mit sich. Die Bitte um Vergebung wird von Gott erhört; ja, er hat versprochen, Gebete zu erhören. Aber der Zuspruch der Vergebung in der Absolution: „Dir sind deine Sünden vergeben“, hat ein höheres Maß an Vergewisserung. Daher spricht das Augsburger Bekenntnis in Artikel 25 auch von dem großen Trost der Absolution und formuliert: „…als ob Gottes Stimme selbst vom Himmel erschallt“.
Das Heilige Abendmahl spricht auch Vergebung zu, es umfasst aber noch sehr viel mehr – nämlich Tischgemeinschaft, Gemeinschaft mit Jesus Christus, seinem Leib und Blut, und Gemeinschaft der Christen untereinander. Wobei man auch ungebeichtet zum Abendmahl kommen kann, da hat es früher gelegentlich Unsicherheiten gegeben. Wer es also morgens nicht rechtzeitig zum Beichtgottesdienst aus den Federn geschafft hat, kann trotzdem zum Abendmahl gehen.
Es sind also verschiedene Schwerpunktsetzungen: Die Beichte setzt den Schwerpunkt auf das Sündenbekenntnis und die Vergebung, das Heilige Abendmahl setzt den Schwerpunkt auf die innige Gemeinschaft mit Jesus Christus und die Gemeinschaft untereinander – bei der auch Vergebung geschieht.
Behrens: Man könnte das höhere Maß der Vergewisserung durch die Absolution noch anders formulieren aus Sicht derer, die das wahrnehmen. Der persönliche Zuspruch mit Handauflegung macht die Erfahrung der Vergebung zu etwas Besonderem. Es herrscht viel Unverständnis und Unsicherheit darüber, was Beichte eigentlich ist. Sie wird als altmodisch gesehen, als Akt, in dem der Mensch klein gemacht werden soll. Es ist der Kirche nicht gelungen, zu vermitteln, dass es darum gerade nicht geht, sondern dass der Mensch darin befreit wird.
Den Menschen fällt es häufig schwer, zu erkennen, dass sie schuldig sind, dass sie der Vergebung bedürfen. Insofern ist die Beichte im Verständnis vieler tatsächlich immer noch ein „Zwangsinstrument“ der Kirche.
Voigt: Ich kann nachvollziehen, dass Menschen das so sehen. Es geht aber eben nicht darum, dass wir in der Beichte klein gemacht werden sollen. Sondern wir machen uns jeden Tag selbst klein, indem wir schuldig werden – vor Gott und gegenüber den Mitmenschen. Das, was uns an Schuld geschieht, was wir tun, das macht uns klein. Die Beichte hingegen macht uns groß, in dem sie sagt: „Dir sind deine Sünden vergeben. Die Schuld ist weg, das zählt vor Gott nicht mehr, du kannst bei Null wieder anfangen.“ Das macht uns groß! Daher ist es wichtig, dass die Beichte zum Kernbestand lutherischer Kirche gehört. Auch wenn es Gemeinden gibt, in denen diese Praxis weiter weg ist.
Fehlt es an der Praxis oder am Verständnis der Inhalte?
Behrens: Ich vermute, das theologische Verständnis der Beichte fehlt weitgehend. Die Frage ist doch: Wo gibt es dafür den Anknüpfungspunkt in der eigenen Erfahrung? Wenn der Mensch nie den Eindruck hat, er sei irgendwie Sünder, das werde ihm immer nur eingeredet von Pastoren, dann hat er auch kein Bedürfnis nach der Beichte. Aber wo jemand ergriffen ist davon – da werden Sünde und Vergebung erlebbar. Erfahrung ist zwar keine Kategorie, die in unserer lutherischen Theologie eine große Rolle spielt. Aber wenn der Glaube auf Dauer unerfahrbar bleibt, dann schlägt er auch nicht Wurzeln in den Herzen. Ich bin aber überzeugt, dass die biblische Rede von Sünde und Gnade und Rechtfertigung anknüpft an das Erleben des Menschen. Unsere Aufgabe ist es, Formulierungen und Formen zu finden, die diese Erfahrung ermöglichen. Die Beichte muss einen Raum eröffnen, in dem ich die Dinge ansehen kann, die ich eigentlich nicht so gern ansehen will. Einen Raum, in dem ich diese Dinge eben gerade loswerden, abgeben kann, in dem sie mir vergeben werden.
Voigt: Um die Vermittlung geht es doch immer in der Verkündigung: Gottes Wort auszulegen, zu den Menschen zu bringen, also zu „vermitteln“. Schuld gehört einerseits überhaupt nicht zu unserer Erfahrungswelt. Schuld vor Gott ist uns natürlicherweise gar nicht bewusst. Dafür haben wir kein Sensorium. Was ich an Gott sündige, muss mir gesagt werden. So gesehen haben wir tatsächlich ein „Vermittlungsproblem“, das sich jeden Sonntag und jeden Tag der Woche neu stellt.
Auf der anderen Seite hat der Mensch sehr viel mit Schuld zu tun in seinem Alltag. Das ist offensichtlich. Was es für Konflikte gibt, allein in Familien und Gemeinden! Und ja: Erfahrung gehört auch zum Glauben, weil Vertrauen und Glaubenserkenntnis zusammen gehören. Und Vertrauen hat mit Gefühl zu tun, mit Zuwendung und damit auch mit Erfahrung, darum geht es tatsächlich auch.
Behrens: Jeder Pfarrer kennt das: dass wir Dinge in unseren Predigten sagen, die absolut richtig sind – und sie kommen trotzdem nicht an. Jetzt könnte man es sich leicht machen und sagen: Da mag der Teufel im Spiel sein, oder die Leute sind halt harthörig… Aber manchmal muss man auch andere Wege suchen, damit die Dinge nicht nur theologisch richtig sind, sondern auch erfahrbar werden. Die Botschaft in Bezug auf die Beichte, die von uns als Kirche wahrgenommen wird, ist die: Der Beichtgottesdienst ist wichtig, die Leute müssten nur wieder öfter hingehen. Und das unterlegt mit dem Ton eines leichten Vorwurfs.
Was kann die Kirche denn anders machen?
Behrens: Wir müssten neu überdenken, wie die Beichte zu gestalten wäre. Ich bin ein großer Freund davon, die klassische kirchliche Begrifflichkeit tatsächlich beizubehalten. Also eben nicht zu sagen: Wir nennen es anders, wir lassen Beichte und Absolution weg, wir benutzen den Begriff der Sünde nicht mehr, weil das ein schwieriger Begriff ist. Aber wir sollten uns viel mehr um die Vermittlung unserer Themen bemühen, weil die Leute inzwischen so weit weg sind, dass sie Sünde nicht anders verstehen können denn als moralische Verfehlung, und Beichte nicht anders denn als Zwang, sich in eine Kiste zu zwängen und dem Pfarrer die intimsten Verfehlungen zu erzählen – ich karikiere etwas. Ich würde die Beichte gern vom Beharren auf bestimmten Formen und bestimmten Handlungen lösen.
Voigt: Ich erlebe das in unserer Kirche anders. Ich erlebe, dass in der überwiegenden Mehrheit unserer Gemeinden eine durchaus lebendige Praxis der gemeinsamen Beichte vorhanden ist. Das ist eine Form, über die man auch immer wieder nachdenken kann – zumal sie auch eher neu ist und die Einzelbeichte weitgehend abgelöst hat. Aber damit ist auch die Türe zur Einzelbeichte offen gehalten, weil die Leute aus der gemeinsamen Beichte wissen wie’s „funktioniert“, und die Einzelbeichte kommt auch in unseren Gemeinden vor. Da müssen wir anknüpfen und überlegen, was wir für einen Schatz haben und wie wir den lebendig halten können. Das ist auch die Intention in unseren Planungen für das Reformationsjubiläum.
Unser Gespräch führt aber zu sehr auf die Sündenerkenntnis, auf die Frage: Was ist Sünde? Dass Christus uns vergibt, ist eine frei machende Freude, die unser Christenleben bestimmt. Das ist der eigentliche Zielpunkt.
Behrens: Einverstanden. Wir sollten deutlich machen, dass Rechtfertigung in ganz vielen Situationen geschieht und fast schon als eine Art Lebensgefühl lutherischer Christen bezeichnet werden könnte. Dazu gehört auch der Begriff „Sünder und Gerechter zugleich“. Für Selbstgerechtigkeit ist in diesem Gottes- und Menschenbild kein Raum, für das Scheitern und wieder neu Anfangen hingegen schon. Das ist tatsächlich ein Gedanke, der an die Erfahrung der Menschen anknüpfen kann. Ich benutze beim Erklären des vierten Artikels des Augsburger Bekenntnisses, des „Allein aus Gnaden“, gern den lateinischen Begriff: gratia – gratis. Das versteht jeder.
„Gratis“ versteht jeder. Aber entspricht das wirklich der Erfahrung der Menschen? Ist es nicht näher liegend, zu glauben, man müsse sich in der Beichte klein machen, bereuen und dann „Busse tun“?
Behrens: So ist das vermutlich im Empfinden vieler Menschen. Auch, weil uns das „Gratis“ nun gar nicht in Fleisch und Blut liegt – wir möchten lieber etwas leisten.
Voigt: Die Frage ist doch, was denn gratis ist. Gratis ist die Vergebung. Was wird vergeben? Unsere Schuld. Der Begriff „gratis“ trifft es. Aber er entfaltet nur dann seine Wirkung, wenn deutlich ist, was uns gratis geschenkt wird.
Es geht in der Beichte nicht darum, Leute klein zu machen. Wir machen uns oft selbst klein, ohne es zu merken. Christus richtet uns auf, macht unseren Rücken wieder grade. Selbst wenn ich keinen genauen Blick für meine Verlorenheit vor Gott habe, richtet er mich auf und macht mich stark in den Konflikten.
Behrens: Mit der etwas altertümlichen Formulierung „simul iustus et peccator“ („zugleich gerecht und Sünder“) ist das, was Rechtfertigung bedeuten kann, wunderbar auf den Punkt gebracht: Dass man nämlich nicht so tun muss, als gebe es keine Schuld und keine Schattenseiten in diesem Leben – und dass man gleichzeitig weiß, wohin man damit gehen kann. Wo das gut aufgehoben ist, weil man es selbst nicht aufheben kann.
Voigt: Sünder und Gerechter gleichzeitig: diese Formulierung hilft, glaube ich, Menschen in unserer Zeit, weil sie genau das erleben, beispielsweise in schwierigen Situationen, in denen man sich nur zwischen zwei „falschen“ Wegen entscheiden kann – und schuldig wird. Gerade am Anfang und am Ende des Lebens gibt es oft solche Situationen. Da hilft es, das eigene Sündersein so grundsätzlich zu verstehen, dass wir bis zu unserem letzten Atemzug die Bitte brauchen: „Und vergib uns unsere Schuld“. So muss ich mein Leben nicht zurechtbiegen, sondern kann sagen: Du hast recht, ich habe Fehler gemacht; lass uns sehen, wie wir weiter damit umgehen. Das ist menschlich befreiend. Ich vermute allerdings, dass wir in unserer Gesellschaft weithin vergessen haben, wovon wir befreit sind. Deswegen stört mich gelegentlich das Pathos, das mit dem Begriff Freiheit oft verbunden wird.
In der Einladung der SELK zum Festwochenende anlässlich des Reformationsgedenkens 2017 heißt es: „Ohne Zweifel ist es im Sinne Luthers, dass wir nicht ihn in den Mittelpunkt stellen, sondern Christus und den Glauben an ihn, den der Reformator vor 500 Jahren wieder ans Licht geholt hat“. Also keine Luther-Gedenkfeier?
Voigt: Es ist uns ein Anliegen, keine Jubelfeier zu veranstalten. Wir versuchen, beim Ausgangspunkt der Reformation anzusetzen: bei der Vergebung, bei der Rechtfertigung im weiten Sinn. Bei dem, was in den lutherischen Bekenntnisschriften zusammengefasst ist. Deshalb finden die Feierlichkeiten im Kontext des Tages der Augsburger Konfession, dem 25. Juni, statt. Das ist übrigens auch der Tag, an dem sich die bekenntnislutherischen Kirchen 1972 zusammengeschlossen haben.
Behrens: Und es ist gut, dass es eine lutherische Kirche wie die unsere gibt. Gleichwohl soll man nicht verschweigen, dass mit der Reformation ein Stück Einheit der Christenheit zerbrochen ist. Wir müssen erkennen, dass es die Dimension eines Bruches, einhergehend mit Verletzungen, gegeben hat. Nun ist die römisch-katholische Kirche ja auch eine ganz andere als zu der Zeit Luthers. Alte Verwerfungen zu reproduzieren würde dem nicht gerecht. Vielleicht gelingt es uns ja, in einer weiter ökumenisch gesinnten Welt, das, was Luther als Zentrum des christlichen Glaubens zum Leuchten gebracht hat, neu einzuspeisen.
Voigt: Da möchte ich doch nochmals einhaken, weil das im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017 immer wieder zu hören ist: dass die Einheit der Kirche in der Reformation zerbrochen sei. Die Einheit war vorher zerbrochen, und zwar die Einheit in der Lehre dessen, wie ein Mensch zu Gott gelangt und Gott zu den Menschen. Die Reformation hat sich verstanden als Bewegung, die zu dieser Einheit zurückführen will. Deshalb verstehen sich die lutherischen Bekenntnisse auch als die ökumenischen Bekenntnisse. Vordergründig ist die Einheit mit der Reformation verloren gegangen, aber, wenn man theologisch tiefer hindenkt, dann ist sie vorher zerbrochen. Die Reformation wollte zurückführen zur Konkordie, zur Einheit. Dass das bis heute nur bruchstückhaft gelungen ist, auch wenn große Annäherungen zu konstatieren sind, sollten wir als Kirche wahrnehmen.
Die Fragen stellte Doris Michel-Schmidt
Martin Luther – Kirchenspalter oder Ökumeniker?
Mit den 95 Thesen argumentierte Martin Luther 1517 gegen den missbräuchlichen Ablasshandel. Das Letzte, was er damit intendierte, war eine Kirchenspaltung, sagte Propst Gert Kelter, Ökumenebeauftragter der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), kürzlich in einem Vortrag in Brunsbrock zum Thema „Martin Luther – Kirchenspalter oder Ökumeniker?“
Luthers 95 Thesen, deren Veröffentlichung man heute rückblickend als Auslöser der Reformation bezeichnet, waren, so Gert Kelter „grundkonservative, kirchen- und papsttreue theologisch-akademische Diskussionsbeiträge, die, für sich genommen, keinerlei kirchenspalterische Sprengkraft gehabt hätten, wenn sie nicht in eine zeitgeschichtliche Situation gestoßen wären, die Luther mit größter Wahrscheinlichkeit 1517 auch nicht ansatzweise kannte und einschätzen konnte“. Kelter erläuterte, dass Luther sich nicht gegen die theologische Idee des Ablasses an sich wendete, nicht gegen Bußleistungen und gute Werke der Wiedergutmachung, sondern gegen die Praxis des Ablasshandels: „Denn in der kirchlichen Praxis war es mittlerweile möglich und üblich geworden, die Bußleistungen in Form von guten Werken, die die ursprünglichen Bußtage ersetzen konnten, wiederum dadurch zu ersetzen, dass man eine Sühneleistung in Form von Geld erbrachte. Dafür erhielt man sozusagen eine kirchliche Quittung, den Ablasszettel oder Ablassbrief, auf dem einem bescheinigt wurde, dass man nun soundso viele Tage oder Jahre weniger im Fegefeuer zu büßen habe.“
Luther sei zunächst davon überzeugt gewesen, so Kelter, dass der Papst von diesen Missbräuchen keine Ahnung hatte. Als Beleg zitierte er aus den Thesen: „Man soll die Christen lehren: Die Meinung des Papstes ist es nicht, dass der Erwerb von Ablass in irgendeiner Weise mit Werken der Barmherzigkeit zu vergleichen sei.“ Oder: „Man muss die Christen lehren: Wenn der Papst das Geldeintreiben der Ablassprediger kennte, wäre es ihm lieber, dass die Basilika des Heiligen Petrus in Schutt und Asche sinkt als dass sie erbaut aus Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe.“
Nachdem Luther seine Beobachtungen des missbräuchlichen Ablasshandels seinem obersten Vorgesetzten, dem Erzbischof, und weiteren geistlichen wie weltlichen Würdenträgern angezeigt und ihnen seine Thesen geschickt hatte, erwartete er, dass dem Treiben des Ablassverkaufens sofort Einhalt geboten werde. „Leider verkannte Luther offenbar vollkommen, dass alle in dieser Weise angeschriebenen Personen an theologischen Fragen keinerlei Interesse hatten, dafür umso mehr an einer Fortsetzung des Ablasshandels“, sagte Kelter, denn der Ablasshandel stellte im 16. Jahrhundert eine ganz wesentliche Einnahmequelle der Kirche dar.
Man könne ausschließen, so Kelter, dass der Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther ahnen konnte, in welches Wespennest er stechen würde, wenn er den Ablasshandel kritisierte. Und erst recht, welche Folgen und Auswirkungen seine theologische Kritik einmal haben würde. „Das Letzte, was Luther intendierte, war eine Kirchenspaltung“, so Kelter. Aber bereits etwa drei Jahre nach der Veröffentlichung der Thesen sei Deutschland und seien Teile Europas kirchlich und auch politisch geteilt gewesen. Um diese Zeit sei auch erstmals der Begriff „Lutheraner“ aufgekommen, der später zur Konfessionsbezeichnung wurde. „Hätte Erzbischof Albrecht die Missbräuche des Ablasshandels unterbunden, hätte das von Luther und seinen Anhängern immer wieder geforderte Konzil stattgefunden und sich theologisch mit den 95 Thesen befasst, hätte sich eine rein akademisch-theologische innerkatholische Debatte nicht verselbständigt, weil sie zur machtpolitischen Nagelprobe vieler Interessenvertreter wurde, hätten sich daraus nicht europaweite kriegerisch-militärische Auseinandersetzungen bis hin zum 30-jährigen Krieg entwickelt, … dann wäre es vielleicht nicht zur Kirchenspaltung gekommen“, sagte Propst Kelter und machte damit deutlich, dass die Spaltung der abendländischen Kirche nur als Produkt vieler Ursachen, Wirkungen und Folgewirkungen, als Ergebnis sehr weltlich-machtpolitischer Auseinandersetzungen unter dem Deckmantel von Glaubensfragen, „ja als Resultat einer Verkettung unzähliger und meist unglücklicher Umstände“ zu beschreiben sei.
Daher sei Luther auch kein Lutheraner gewesen und kein Kirchengründer, sagte Kelter, sondern: „Es gehört zu Luthers unverrückbarer Überzeugung, dass das, was er glaubt, lehrt und bekennt, nicht „seine“ Lehre ist, sondern die der einen, heiligen katholischen und apostolischen, der christlichen Kirche und zwar ausweislich ihrer Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und den rechtgläubigen, also schriftgemäß lehrenden Kirchenvätern.“
Eine kirchliche „Wiedervereinigung“ würde, so der Ökumenereferent der SELK, einen Konsens in der Lehre, insbesondere der Rechtfertigungslehre voraussetzen. „Würde man, sehr vergröbert und vereinfacht, den Zustand der Kirchspaltung als ein Laufen in entgegengesetzte Richtungen beschreiben – wobei jede Seite behauptet, die jeweils andere sei die falsche –, müsste Umkehr heißen, sich auf eine gemeinsame Richtung und ein gemeinsames Ziel zu einigen. Theologisch gesprochen: Auf die Wahrheit und ein gemeinsames Bekennen der Wahrheit.“ Bisher würden aber Lutheraner und römische Katholiken die Frage nach der Wahrheit unterschiedlich, ja gegensätzlich beantworten. Kelter nannte dazu aus lutherischer Sicht die Rechtfertigungslehre, die Amtsfrage, das Verhältnis von Schrift und kirchlicher Tradition, das Thema Papst und päpstliche Unfehlbarkeit, die Stellung der Heiligen, die theologische Bedeutung der Gottesmutter Maria, das Verständnis des Heiligen Abendmahls und die Ablass- und Fegfeuerlehre. Aber auch wenn die bisherigen Konsensversuche aus seiner Sicht gescheitert seien, sagte Kelter, so hätten die ökumenischen Gespräche doch zu einem gegenseitigen besseren Verständnis geführt. Die Gespräche, das gemeinsame theologische Bearbeiten der konfessionellen Differenzen lohne sich. In jedem ökumenischen Gespräch würden Vorurteile abgebaut. Ein ökumenisches Klima des entspannten Miteinander ermögliche eine gemeinsame Besinnung auf die Hauptaufgabe der Kirche in dieser Zeit und Welt: die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus. Die Einmütigkeit im Glauben und Bekennen sei immer ein Geschenk des Heiligen Geistes, sagte Kelter abschließend. Sie lasse sich nicht menschlich herstellen oder bewirken, sondern nur erbitten.
Fragwürdige Glaubensprüfung christlicher Asylbewerber
Die Entscheidungspraxis beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe sich seit einigen Monaten deutlich geändert, schreibt Pfarrer Dr. Gottfried Martens von der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK). In seiner Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin-Steglitz betreut er intensiv Konvertiten, hauptsächlich aus dem Iran und Afghanistan, die zum christlichen Glauben konvertiert sind.
Engagierte Christen in seiner Gemeinde, die vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert waren, hätten bisher davon ausgehen können, dass sie hier in Deutschland als Flüchtlinge bleiben konnten, schreibt Martens auf seiner Facebook-Seite. Das habe sich deutlich geändert. Die Anhörungen des BAMF und die anschließenden Entscheidungen seien zu einem Glücksspiel geworden. Es gebe viele Anhörer beim BAMF, die in einer fairen Weise mit Asylsuchenden umgingen, so Martens, und auch viele positive Entscheidungen, die konvertierten Christen ein Bleiberecht in Deutschland zusprächen. Doch das Klima habe sich gewandelt. „In den letzten Monaten hat das BAMF viele neue Entscheider eingestellt, die im Schnellverfahren auf ihre Aufgaben vorbereitet wurden und die offenkundig sehr unterschiedliche persönliche Einstellungen zu christlichen Asylbewerbern haben. Manch einer lässt deutlich durchblicken, dass er Asylbewerber, die eine Konversion vom Islam zum christlichen Glauben als Asylgrund vorbringen, von vornherein für unglaubwürdig hält“, schreibt der Pfarrer. Schwerer wiege allerdings, dass es offenkundig keinerlei Vorgaben für die Anhörer gebe, wenn es darum gehe, die Ernsthaftigkeit einer Konversion zum christlichen Glauben festzustellen. „Und so erleben wir in vielen Anhörungen, wie in massiver Weise der Staat in kirchliche Belange eingreift und Kriterien für die Anerkennung als Christ aufstellt, die wenig mit den Kriterien zu tun haben, die die christlichen Kirchen selber benennen würden“, schreibt Martens.
Der SELK-Pfarrer nennt mehrere Beispiele von Fragen, die Asylbewerber gestellt werden. Zum Beispiel müssten sie sich in den deutschen Konfessionsunterschieden auskennen. „Dass sie hier in Deutschland einfach nach einer Kirche gesucht haben, in der sie das Evangelium in ihrer Muttersprache hören und in der die Bibel als Gottes Wort ernst genommen wird, reicht vielen Anhörern nicht“, so Martens. Oder Anhörer ließen sich über das Kreuz aus, das manche Bewerber tragen, und fragten dann wahlweise: „Wo ist Ihr Kreuz? Christen tragen in der Regel ein Kreuz“, oder: „Warum tragen Sie denn eine Kreuzkette? Ich frage, weil es für einen Gläubigen der evangelisch-lutherischen Gemeinde nicht gewöhnlich ist, ein Kreuz zu tragen, wie etwa für einen Gläubigen der katholischen oder orthodoxen Kirche.
Es gebe auch immer wieder Klagen darüber, dass die Aussagen der Asylbewerber über den christlichen Glauben in den Protokollen nur sehr verkürzt oder gar nicht wiedergegeben würden. Oftmals liege das schlicht an den fehlenden Kenntnissen der Übersetzer. Statt der langen inhaltlichen Ausführungen der Flüchtlinge würden sie einfach einige wenige Sätze in erkennbar muslimischer Diktion als Zusammenfassung darbieten. „Da wird Jesus dann als „der Prophet Jesus“ übersetzt, oder statt vom Islam wird von „unserer Religion“ geredet – was einem Asylbewerber dann eine Ablehnung seines Asylantrags einbrachte, weil das Bundesamt messerscharf folgerte, der Asylbewerber habe sich wohl verplappert und sich an dieser Stelle als heimlicher Muslim geoutet. Oder eine Asylbewerberin stellte im Nachhinein bei der Lektüre des Protokolls fest, dass der Dolmetscher ihre Ausführungen darüber, dass das christliche Glaubensbekenntnis für sie so wichtig sei, mit den Worten „Ich kann auf die Zehn Gebote nicht verzichten“ wiedergegeben hatte. Dass die Zehn Gebote nicht das Glaubensbekenntnis der Christen sind, war diesem Dolmetscher offenbar nicht bewusst.“ Mitunter käme es auch vor, dass Dolmetscher offen – in ihrer Muttersprache – ihren Unmut darüber kundtäten, dass sie eine negative Aussage über den Islam übersetzen sollten.
Wenn Gemeindeglieder nach einer solchen Anhörung dann eine Ablehnung ihres Asylantrags bekommen, liest Pfarrer Martens immer wieder die gleichen feststehenden Satzbausteine. Eine besonders absurde Begründung einer aktuellen Ablehnung zitiert Martens auf Facebook: „Auch gaben die Antragsteller an, sich für den christlichen Glauben entschieden zu haben, weil einem dort die Sünden vergeben werden. ... Vergebung durch die Gottheit ist allerdings in allen Religionen verankert. Auch die Priester aller übrigen Religionen dieser Welt behaupten, dass sie ähnliche Gnaden der Vergebung ihrer jeweiligen Gottheiten vermitteln könnten, wenn die Gläubigen nur entsprechende Zeichen der Reue erkennen ließen oder zumindest Gegenleistungen erbringen würden. Und bisweilen gibt es sogar ähnliche Erlösungstaten in außerchristlichen Mythologien wie den Tod des Osiris bei den alten Ägyptern und seine Auferstehung. Die Predigt von der Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft einer Gottheit gehört zum Repertoire aller Religionen. ... Der Vortrag der Antragsteller, dass sie zum Christentum konvertiert seien, um Vergebung der Sünden zu erhalten, kann demnach gerade nicht als Erklärung für eine Konversion herhalten.“
Es sei ein skandalöser Übergriff des Staates in Glaubensfragen, kommentiert Martens, wenn er sich das Urteil anmaße, dass man den Opfertod Jesu am Kreuz mit „außerchristlichen Mythologien wie dem Tod des Osiris“ gleichsetzen könne. „Der deutsche Staat in Gestalt des Bundesamtes erklärt öffentlich, dass der Glaube an den Kreuzestod Jesu zur Vergebung der Sünden kein Grund zur Konversion zum christlichen Glauben ist!“ Wenn im BAMF die Anträge christlicher Asylbewerber weiter mit solchen Begründungen abgelehnt würden, hätten die Verwaltungsgerichte in Zukunft wohl noch sehr viel mehr Arbeit damit, vermutet Pfarrer Martens. Die Zahlen der Klagen vor Gericht gegen eine Ablehnung haben bereits drastisch zugenommen.