Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
Der Deutsche Ökumenische Studienausschuss (DÖSTA), der „Wissenschaftlichen Beirat“ der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Deutschland, hat ein Wort zur Würdigung des 20. Jahrestags der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) am 31. Oktober 2019 herausgegeben. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) ist im DÖSTA durch Prof. i.R. Dr. Werner Klän D.Litt. (Lübeck) vertreten, der auch an der Erklärung mitgearbeitet hat. Für selk.de stellt er das Wort des DÖSTA zum 20. Jahrestag der Unterzeichnung der GER vor.
Von einem bilateralen zu einem multilateralen Dokument
Die Erklärung hebt hervor: „Auch wenn nicht alle Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen ihre Zustimmung erklärt haben, ist aus einem ursprünglich bilateralen inzwischen ein multilaterales Dokument geworden.“ Ursprünglich am 31. Oktober 1999 in Augsburg von Lutherischem Weltbund und dem Vatikan unterzeichnet, konnten sich der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre mittlerweile der Weltrat methodistischer Kirchen (2006), die Anglikanische Gemeinschaft (2016) und die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (2017) anschließen. Das Wort des DÖSTA würdigt, dass Annäherungen in der Rechtfertigungsthematik zwischen vielen Kirchen in der Ökumene gewachsen seien.
Würdigung von Einwänden
Das Wort des DÖSTA markiert zugleich deutlich, dass „Einwände gegen die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ nicht ausblieben, „auch durch einzelne Mitgliedskirchen der ACK“. Zu diesen gehört auch die SELK. Begrüßenswert ist, dass der DÖSTA gemeinsam zum Ausdruck bringen konnte, dass „[k]onstruktive Kritik von römisch-katholischer und lutherischer, von methodistischer, reformierter und anglikanischer Seite als hilfreiche Erweiterung des eigenen Verständnisses wertgeschätzt (wird). Die Diskussion lässt erkennen, dass auch in den Reihen der ACK nach wie vor Klärungsbedarf besteht, inwieweit verbliebene Differenzen mit einem grundsätzlichen Konsens vereinbar sind.“
Ermutigung zu gemeinsamer Erschließung der Rechtfertigungsbotschaft
Gegen Ende des Dokuments heißt es: „Der DÖSTA plädiert dafür, dass die christlichen Kirchen es als ihre Aufgabe ansehen, den Rang der Rechtfertigungslehre als Kriterium der Wahrheit, der Einheit und Freiheit des Glaubens zusammen neu zu erschließen. Die Herausforderung besteht darin, die Rechtfertigungsbotschaft in der Sprache von heute neu zu formulieren und auf der Basis theologischer Einsichten gemeinsam von der Liebe Gottes zu allen Menschen zu sprechen, auch wenn sie Sünder sind.“
Erklärung der Mitgliederversammlung der ACK
Ergänzt wird das fünfseitige Dokument durch eine Erklärung der Mitgliederversammlung der ACK in Deutschland. „Die Mitgliederversammlung der ACK nimmt das Wort des DÖSTA aus Anlass des 20. Jahrestags der Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ am Reformationstag 1999 mit Dankbarkeit zustimmend entgegen und bekräftigt den Aufruf zum multilateralen Gespräch über die Rechtfertigungsbotschaft.“
Konkordienlutherische Gesichtspunkte
Aus konkordienlutherischer Sicht ist zu begrüßen, dass die Rechtfertigungslehre, über deren Verständnis im 16. Jahrhundert die Einheit der abendländischen Christenheit zerbrach, zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Römisch-katholischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zum Gegenstand theologischer Bearbeitung gewählt wurde. Diese Arbeit, die in verschiedenen Dokumenten Niederschlag gefunden hat, hat tatsächlich eine Reihe von Korrekturen überkommener Fehlurteile erbracht; dies gilt z. B. für das Vorurteil einer römisch-katholischen „Werkgerechtigkeit“ oder für eine angebliche „ethische Indifferenz“ der lutherischen Theologie.
Erstmals in einem lutherisch/römisch-katholischen Dialog wurde in einer gemeinsam getroffenen Aussage das sola gratia („allein aus Gnaden“) durch das sola fide („allein durch den Glauben“) ergänzt (Annex 2C) und durch Römer 3,28 gestützt. Dies ist eine Konsensaussage von wesentlicher ökumenischer Tragweite, auch aus Sicht der SELK. Die kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre wird erfreulich herausgestellt, nämlich dass „keine Lehre diesem Kriterium widersprechen“ darf (Annex 3). Die Einordnung der Rechtfertigungslehre in den „Gesamtzusammenhang des grundlegenden trinitarischen Glaubensbekenntnisses der Kirche“ ist sachgemäß und entspricht lutherischem Verständnis seit den Zeiten der Reformation.
Weiterer Klärungsbedarf und bleibende Aufgabe
Zu fragen bleibt, ob die Wirksamkeit des göttlichen Freispruchs von Sünde und Schuld deutlich genug herausgestellt wird, ob die Antwort auf die Frage nach der Heilsgewissheit zureichend vergewissernd gefasst wird und welchen Stellenwert menschliches Handeln bei der Rechtfertigung des Sünders haben kann.
Wenngleich die SELK auf verbleibende Unterschiede und zu klärende grundlegende Sachverhalte aufmerksam macht, gibt sie doch der Hoffnung Ausdruck, dass die grundlegenden biblischen Aussagen über die Rechtfertigung des Sünders vor Gott in allen Kirchen Mittelpunkt des theologischen Denkens und des kirchlichen Handelns werden und bleiben.
So kann sie der Schlussfolgerung des DÖSTA nur zustimmen: „20 Jahre nach der Unterzeichnung der ‚Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘ ist es an der Zeit, in der multilateralen Ökumene gemeinsam über die befreiende Botschaft der Rechtfertigung nachzudenken. Sie ist immer aktuell. Ihre Bedeutung für das Miteinander und für das Zeugnis der Kirchen muss und kann neu erschlossen werden.“
Verein für Freikirchenforschung
Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) ist durch Professor Dr. Gilberto da Silva, Lehrstuhlinhaber für Historische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel der SELK, im Verein für Freikirchenforschung vertreten. In einem Interview für die selk.de-Internetpräsenz erläutert er, was es mit diesem Verein auf sich hat.
selk.de.: Herr Professor da Silva, Sie vertreten die SELK im Verein für Freikirchenforschung (VFF) und arbeiten auch in dessen Beirat mit. Was ist das für ein Verein?
Da Silva: Der VFF ist 1990 von Theologen und Historikern aus verschiedenen „Freikirchen“ gegründet worden. Der Initiator war Prof. Dr. Robert Walton (
†), seinerzeit Direktor des Seminars für Neue Kirchen- und Theologiegeschichte der theologischen Fakultät der Universität Münster. Heute zählt der VFF ca. 180 Mitglieder aus etwa 27 Denominationen. Auch Forscherinnen und Forscher aus deutschen Landeskirchen arbeiten mit.
In den Tagungen des Vereins werden theologische und kirchengeschichtliche Fragen aus „freikirchlicher“ Perspektive beleuchtet. Das bedeutet aber nicht, dass man nur „freikirchlich“ unter sich bleibt, denn auch größere Kontexte und Verhältnisse zu anderen Kirchen werden untersucht. Darüber hinaus besitzt der VFF eine Fachbibliothek, die in den Räumlichkeiten der Theologischen Hochschule Friedensau (Siebentagesadventisten) untergebracht ist.
Der VFF veröffentlicht auch das Jahrbuch „Freikirchenforschung“ mit den Beiträgen aus den Tagungen und anderen Texten.
selk.de: Eine Besonderheit des Vereins ist, dass sich hier Vertreterinnen und Vertreter von kleineren Kirchen begegnen und austauschen, die nicht zum kirchlichen Mainstream gehören. Wie prägt das die Zusammenarbeit?
Da Silva: Die Zusammensetzung des Vereins prägt die Arbeit verschiedenartig. Zum einen ist die „Gleichheit“ unter den Denominationen deutlich zu spüren, denn es handelt sich eben um „Freikirchen“, die meist klein und aus Oppositionsbewegungen gegen die etablierten Kirchen entstanden sind. Ich verwende allerdings den Begriff „Freikirche“ in Anführungszeichen, um deutlich zu markieren, dass es sich um eine deutsche oder höchstens nordeuropäische Sicht der Dinge handelt, denn nur hier gibt es „Freikirchen“ im gegenüber zu „Landeskirchen“. Woanders auf der Welt gibt es nur Kirchen oder Denominationen.
Doch der strukturellen Gleichheit steht eine große theologische Vielfalt gegenüber. Man muss sich vorstellen, dass im VFF selbstständige Lutheraner wie wir, Quäker, Methodisten, Baptisten, Siebentagesadventisten, Heilsarmisten und andere zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit geschieht aber auf einem sehr professionellen, wissenschaftlichen und auch geschwisterlichen Niveau, wofür ich sehr dankbar bin.
selk.de: Mit welchen Themen hat der Verein sich in der jüngeren Vergangenheit beschäftigt und was fanden Sie selbst besonders interessant?
Da Silva: Auf den Tagungen wurden zum Beispiel thematisiert: „Friedenstheologie und Friedensengagement in den Freikirchen“ sowie „Die Freikirchen zwischen politischer Duldung und religiöser Freiheit“ (2014); „Kirchenwechsel – Tabuthema der Ökumene“ (2015); „Reformatorische Identität im europäischen Freikirchentum“ sowie „Reformatio oder Restitutio? Vorstellungen von Erneuerung der Kirche in der Geschichte der Freikirchen“ (2016); „Reformation und Freikirchen in Österreich“ (2017); „Freikirchen und Judentum“ (2018); „Gerhard Tersteegen, 1697–1769“ (2019). Besonders interessant fand ich die Tagung über das Verhältnis der Freikirchen zum Judentum und darin besonders die erschreckende Entdeckung, dass auch die „Freikirchen“ von den antijüdischen Ideologien, die zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben, nicht frei waren.
selk.de.: Darf man an den Jahrestagungen des Vereins auch als Interessierter teilnehmen oder muss ich dafür Mitglied sein oder andere besondere Voraussetzungen mitbringen?
Da Silva: Ja, jede und jeder Interessierte ist auf den Tagungen herzlich willkommen. Dafür meldet man sich zur Tagung auf der Homepage des VFF (www.freikirchenforschung.de) an. Als „Voraussetzung“ würde ich die Bereitschaft nennen, mit Schwestern und Brüdern anderer Denominationen ökumenisch auszutauschen.
selk.de: Manchmal kann man hören, dass die Zeit der landeskirchlichen Strukturen in Deutschland zu Ende gehe und die Zeit der freikirchlichen Organisationsformen beginne. Was sagen Sie dazu?
Da Silva: Diese Aussage ist mir etwas zu pauschal. Es zeigt sich in der Tat, dass das Modell „Volkskirche“ allein wegen der vielen Austritte nicht zukunftsfähig ist. Doch das „Vor-sich-hin-Schrumpfen“, der Pastorenmangel, die finanziellen Schwierigkeiten und andere strukturelle Entwicklungen betreffen – mit winzigen Ausnahmen – auch die „Freikirchen“. Die Probleme sind meines Erachtens nicht unbedingt bei den Strukturen, sondern eher bei der Kommunikation des Evangeliums zu suchen. Jeder Denomination, sei sie „Frei-“ oder „Landeskirche“, muss sich immer selbstkritisch fragen, ob das, was sie tut, die Menschen heute noch erreicht beziehungsweise erreichen kann.
Kommentar zum Attentat in Halle/Saale am 9. Oktober 2019
Am Mittwoch, 9. Oktober 2019, dem jüdischen Jom Kippur-Fest, versuchte ein – nach jetzigem Kenntnisstand – rechtsextremistisch, antisemitisch orientierter Attentäter in die jüdische Synagoge der Stadt Halle/Saale einzudringen, um die Gottesdienstbesucher anzugreifen. Da dies misslang, erschoss er willkürlich andere Opfer. Der Beauftrage der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) für „Kirche und Judentum“, Pfarrer Andreas Volkmar aus Bielefeld, nimmt in einem Kommentar dazu Stellung.
Positive Gegenwerte schaffen!
„Bin voller Scham und Trauer!“, schrieb mir ein guter Freund nach dem gestrigen Attentat vor der Synagoge in Halle/Saale am höchsten jüdischen Feiertag „Jom Kippur“. Ich konnte dem nur zustimmen und ein tiefer Schmerz über diese Tat erfüllt mich. Ja, auch viele andere sind geschockt und fragen sich: „Wie und warum konnte es zu einem solchen antisemitisch motivierten Anschlag in Deutschland kommen?“
Nun, aus dem Nichts kam diese Aktion nicht. Wer seit einigen Jahren aufmerksam im Internet unterwegs ist, findet ohne Schwierigkeiten unverblümten Antisemitismus. Es gibt durchaus das Bemühen, solche Aktivitäten zu begrenzen. Aber diese Leute finden immer wieder Schlupflöcher im Netz. Die Not ist, dass man Menschen, die so denken, kaum mit rationalen Argumenten begegnet kann. Die „jüdische Weltverschwörung“ ist für sie das „Satanische“ an sich. Nur wer in dieser Szene enttäuscht wird, entwickelt die Energie, nachzudenken und auszusteigen.
Was kann man angesichts dieser Situation tun?
Den überzeugten Antisemiten, wird man nur schwerlich überzeugen können. Umso wichtiger ist es, die Breite der Öffentlichkeit gegen den Antisemitismus zu immunisieren oder zu impfen! In der Regel liegt zurzeit der Schwerpunkt darauf, daran zu erinnern, welche Gräuel aus dem Antisemitismus erwachsen sind. Dieses Erinnern wird eine bleibende Aufgabe sein. Leider erschöpfen sich reine Negativschablonen irgendwann. Mancher will gar nicht mehr hinhören. Darum müssen auch positive Akzente gesetzt und an sie erinnert werden.
1. So sollte gezeigt werden, welche eine fruchtbare Symbiose deutsche und jüdische Kultur gebildet haben. Künstler und Autoren wie Wolf Biermann, Alfred Döblin, Heinrich Heine, Else Lasker-Schüler, Felix Mendelsohn-Bartholdy, Kurt Weill und Michael Wolffsohn haben aus dieser Symbiose heraus geschaffen und gelebt.
2. Es müssen verstärkt Momente der Geschichte in den Blick genommen werden, wo Deutsche für Freiheit und Demokratie gerungen haben. Nur Wenigen sind Namen der sogenannten „48er“ wie Friedrich Hecker, Carl Schurz und Franz Sigel bekannt. Nachdem sie nach der gescheiterten Revolution 1848/49 in die USA emigrieren mussten, waren sie dort Stützen der Demokratie und kämpften dort gegen den Rassismus gegenüber den Farbigen und die Vernichtung der Indianer. Carl Schurz bracht es sogar zum Innenminister.
3. Die antijüdischen Äußerungen des Reformators Martin Luthers haben nicht das Wesen der lutherischen Kirche bestimmt. Sie gehören nicht zum lutherischen Bekenntnis. Es haben sich sogar Menschen jüdischer Herkunft immer wieder bewusst diesem Bekenntnis zugewandt, ohne ihre jüdischen Wurzel zu vergessen. Erinnert sei an Carl Paul Caspari (*8.2.1814, + 11.4.1892), der als Theologe in Deutschland und Norwegen lehrte, und Friedrich August Philippi (*15.10.1809, + 29.8.1882), der eine der wichtigsten lutherischen Dogmatiken im 19. Jahrhundert schrieb.
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Theodor Harms: 200. Geburtstag
Ludwig-Harms-Konferenz greift Gedenkjahr auf
Auf der diesjährigen Louis-Harms-Konferenz zum Thema „Christliche Gemeinde im Wandel“ am 9. November in den Räumen der Pella-Gemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Farven wird auch des 200. Geburtstags von Theodor Harms gedacht. Über den jüngeren Bruder des lutherischen Erweckungspredigers und Missionsgründers Ludwig (Louis) Harms (de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_Harms) wird Pastoralreferentin Dr. Andrea Grünhagen, promovierte Kirchengeschichtlerin und Referentin für Theologie und Kirche im Kirchenbüro der SELK in Hannover, in einem Vortrag „Anstöße für die Gemeindearbeit durch Theodor Harms“ vorstellen. Für www.selk.de hat Andrea Grünhagen dazu im Vorfeld Fragen zur Person und zum Thema beantwortet.
selk.de: Wie lassen sich in Kürze Person und Wirken von Theodor Harms beschreiben?
Grünhagen: Theodor Harms wurde am 19. März 1819 in Hermannsburg in der Lüneburger Heide geboren und er starb dort am 16. Februar 1885. Er hat in Göttingen Theologie studiert, arbeitete dann, wie damals üblich, als Hauslehrer, wurde 1845 Leiter des Missionsseminars in Hermannsburg, übernahm 1857 seine erste Pfarrstelle in dem Heidedorf Müden, wechselte 1865 auf die Pfarrstelle in Hermannsburg als Nachfolger seines Bruders Ludwig und folgte ihm auch als Direktor der Hermannsburger Mission nach. Im Jahr 1878 wurde er aufgrund innerkirchlicher Auseinandersetzungen im Gefolge der staatlichen Maßnahmen des Kulturkampfes aus dem Pfarramt entlassen. Er trat, zusammen mit vielen Gemeindegliedern und einigen anderen Pastoren aus der hannoverschen Landeskirche aus. Sie gründeten die Hannoversche evangelisch-lutherische Freikirche, deren Präses Theodor Harms wurde. Die neu entstandene Kreuzgemeinde in Hermannsburg berief ihn zu ihrem Pastor, Missionsdirektor blieb er.
Seine Biographie ist damit im Grunde schnell erzählt, der geographische Radius seines Lebens war aus heutiger Sicht eher eng. Aber geistlich hatte sein Leben eine sehr große Weite und Tiefe. Sein Glaube wurzelte in der Bibel und zog Kraft aus der Geschichte und dem Bekenntnis der lutherischen Kirche seiner Heimat. In Sachen Mission spannte dieser Glaube die Flügel und pflanzte lutherische Kirche in Südafrika, Indien und Australien. Nicht alle haben seinen Weg in die freikirchliche Existenz verstanden oder gutgeheißen, aber er hielt stand. Theodor Harms war Lehrer, Pastor, Missionsdirektor, Präses, aber auf eine interessante Weise. Immer, wenn ihm ein neues Amt zuwuchs, hat er dafür nicht etwa das vorherige aufgegeben, sondern am Ende war es alles gleichzeitig. Das finde ich wirklich spannend.
selk.de: Was ist über die Beziehung von Theodor zu seinem Bruder Ludwig bekannt?
Grünhagen: Theodor Harms hat das Pech, immer „der Bruder von Louis“ sein zu müssen. Sein Bruder Ludwig war elf Jahre älter als er, die beiden hatten noch acht Geschwister. Ihr Vater Christian Harms war auch Pfarrer in Hermannsburg. Ludwig – oder für seine Familie und Freunde Louis – ist vielen bekannt als Gründer der Hermannsburger Mission und berühmter Erweckungsprediger. Im Gegensatz zu Louis, der nie geheiratet hat, war Theodor ausgesprochen gern Familienvater. Zwölf Kinder wurden seiner Frau Charlotte und ihm geschenkt, vier davon sind gestorben, bevor sie erwachsen wurden. Nächst dem Evangelium war die Musik seine Leidenschaft, die er immer etwas zügeln und Ersterem dienstbar machen musste. So gilt Theodor Harms auch als der Vater der Posaunenchorarbeit in Niedersachsen. Louis interessierte sich für Musik nur, insofern sie dem Gottesdienst und der Erbauung nütze.
Theodor Harms hat selbst mal erklärt, wie er das Verhältnis zu seinem großen Bruder sah. Weil die beiden mit ihren Gemeindegliedern außer in offiziellen kirchlichen Zusammenhängen immer nur Plattdeutsch sprachen, hat er es ihnen Plattdeutsch gesagt: „De Herr hedd mi fört min Läwenlang, dat ick achter öm stahn heww, he vöran, ick öm na. He was de Öllst, ick de jüngst, un ick dank Gott däglich davör. So schallt ok bliwen. … Ick bün sin lieflichen Broder un sin Broder ok in Christo, ick bün sin Nafolger, awer sin Naperrer (Nachmacher) bün ick nich. Min Friheit in Christo behol ick mi vör …“
selk.de: Welche Bedeutung hat Theodor Harms für die Geschichte der SELK?
Grünhagen: Er ist sozusagen der Kirchenvater einer Vorgängerkirche unserer heutigen SELK. Den Weg der Trennung von der Landeskirche ist er nicht leichtfertig gegangen. Es ging darum, dass er und ein paar Mitstreiter, die von ihrer Landessynode erarbeitete neue Ordnung für die kirchliche Trauung, die den Verantwortlichen nach Einführung der standesamtlichen Trauung nötig zu sein schien, nicht gebrauchen wollten. Sie hatten nichts gegen das Standesamt, aber sie hatten etwas dagegen, eine liturgische Ordnung gebrauchen zu sollen, die so tat, als würde die Ehe immer noch in der Kirche geschlossen, während sie dort nunmehr nur noch gesegnet wurde. Dass eine christliche Ehe dadurch zustande kommt, dass Gott Mann und Frau durch das Trauungshandeln am Altar zusammenfügt werden, war ihnen selbstverständlich. Ein Eintrag ins Geburtenregister auf dem Standesamt ist ja schließlich auch keine Taufe, will es auch gar nicht sein. Genauso wenig schließt der Standesbeamte eine christliche Ehe. Also soll man auch nicht so tun, als habe er das getan und das Brautpaar nur noch segnen, sondern man soll es trauen. Nun galt Theodor Harms‘ Vorgesetzten diese liturgische Ordnung so lange als theologisch belanglose Frage, bis Theodor sie nicht verwenden wollte. Da war es dann nicht mehr äußerlich und belanglos, da haben sie ihn, dem sie ansonsten eine segensreiche treue Amtsführung bescheinigten, entlassen. So geht das manchmal. Es gibt garantiert heldenhaftere Geschichten aus anderen Vorgängerkirchen an ihrem Beginn, aber Theodor ging es ja nicht um Heldentum, sondern um Treue.
Als er dann den Schritt aus der Landeskirche tun musste, hat er es konsequent, aber friedlich getan. „Ohne Groll und Hass will ich scheiden aus der Landeskirche …“: So beginnt seine Austrittserklärung. Das bleibt für uns als Kirche eine Mahnung. Ich habe von Theodor Harms in der Sache viele klare Worte gelesen, aber niemals ein hasserfülltes, böses, verletzendes. Er hat sogar versucht, die Mission aus den Streitereien herauszuhalten. Für hartes Theologengezänk hat er jedenfalls keine Abbitte zu leisten.
selk.de: Was schätzen Sie persönlich an Theodor Harms besonders?
Grünhagen: Ich kann sagen, dass sich mir ein paar Maximen von Theodor Harms eingeprägt haben, fast schlagwortartig. Das erste: „Freie Kirche und freier Staat.“ Er war der Meinung, dass es weder der Kirche bekommt, wenn sie dem Staat in seine Aufgaben hineinredet noch dem Staat, wenn er in die Kirche hineinzuregieren versucht. Das ist die grundlutherische Auffassung, dass jeder das zu tun hat, was sein Amt und Beruf ist und dass jeder darin Gott verantwortlich ist. Das zweite ist ein Bibelvers, den Theodor oft zitiert hat: „Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt.“ (Jeremia 17,5) Als die Brüder Harms das Missionshaus gründeten, haben sie sich fest versprochen, sich niemals auf Menschen zu verlassen. Zahlen, seien es Geldsummen oder Mengen an Menschen, haben ihnen niemals Angst gemacht. Damit konnte man ihnen nicht drohen, darauf haben sie sich nicht verlassen, darauf haben sie nicht stolz verwiesen, davon wollten sie mehr gar nicht wissen als es ihre Pflicht verlangte – und Gott hat sie nicht hängen lassen.
Das nächste ist ein Zitat von Theodor Harms, wo er Luthers Wort in Worms aufnimmt: „Es ist nicht geraten, etwas gegen das Gewissen zu tun, aber noch weniger ist es geraten, etwas gegen Gottes Wort zu tun.“ Diese Maxime hat mir schon oft persönlich gute Dienst bei Entscheidungen geleistet.
selk.de: Hinsichtlich der praktischen Gemeindearbeit: Im Blick auf welche Arbeitsfelder lassen sich bei Theodor Harms auch heute noch Impulse gewinnen?
Grünhagen: Uns trennen von damals 200 Jahre! Man kann kaum etwas direkt übertragen. Aber ich möchte darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn ein Pastor so beheimatet ist in seiner Gemeinde wir Theodor Harms. Das Thema Bildung und Schule lag ihm sehr am Herzen. Wo kann Gemeinde heute in dieser Hinsicht aktiv werden? Auch welche Bedeutung die Gottesdienstgestaltung hat, was ihm sehr wichtig war. Auch was Theodor Harms über Frömmigkeit im Alltag gesagt hat, bleibt bedenkenswert. Um das und noch mehr soll es in meinem Vortrag gehen. ich freue mich, dass das mein Beitrag zum 200.Geburtstag von Theodor Harms wird.
Schule, Kirche und die Digitalisierung
Seit es den „Digitalpakt“ gibt, ist das Thema digitales Lernen in aller Munde. Aber was ist das genau und was könnte es für kirchlichen Unterricht bedeuten? Zu diesem Themenfeld hat sich Karsten Müller der Kirchenzeitung „Lutherische Kirche“ der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) für ein Interview zur Verfügung gestellt. Müller ist Oberstudienrat und arbeitet als Studienleiter am Religionspädagogischen Institut (RPI) der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, konkret im Bereich Medienbildung/Neue Medien (www.rpi-medienbildung.de). Er ist zertifizierter Medienpädagoge und Geschäftsführer Nordhessen der Regionalstellen RPI Kassel und RPI Fritzlar. Das Interview findet sich in gekürzter Version in „Lutherische Kirche“ 9/2019, als Langversion im Folgenden.
LuKi: Was muss man sich eigentlich beim Schlagwort „Digitalisierung“ in Bezug auf die Schule vorstellen?
Müller: Im Zuge der Digitalisierung erleben wir eine Transformation unserer Lebenswelt auf allen Ebenen. Ein Bildungsengagement, das den Menschen ganzheitlich in den Blick nimmt, darf die Dimension des Virtuellen/Digitalen nicht (künstlich!) von der so genannten „Realität” abtrennen. Das Interesse am Menschen nimmt dessen Lebenswelt/-räume in den Blick - insgesamt!
Ein Smartphone kann heute nicht mehr nur als zusätzliches technisches Gerät betrachtet werden, sondern wirkt im Alltag inzwischen wie die Verlängerung der Körperteile Arm und Hand. Dabei steht den Schülerinnen und Schülern mit diesem Mini-Computer „mehr Technik” zur Verfügung als den Menschen 1969 auf dem Mond. Dieses technische Potential kann selbstverständlich auch im Unterricht genutzt werden. Die Bedeutung der Digitalisierung darüber hinaus für unseren Alltag darf aber auf gar keinen Fall unberücksichtigt bleiben.
Mitunter wird von einer neuen „Kulturtechnik” gesprochen. Diesem Begriff verhalte ich mich ambivalent gegenüber: Einerseits hat die technische Entwicklung tatsächlich das Potential, Lehren und Lernen zu verändern, und es haben sich im Umgang mit den sogenannten „Neuen Medien” völlig neue Fertigkeiten herausgebildet; andererseits würde ich den Faktor „Digitalisierung” lieber als Querschnittsthema verstehen, als eine Dimension, die alle bekannten Kulturtechniken durchdringt. Diese Sichtweise hat den Vorteil, dass man die Auseinandersetzung mit dem Thema nicht als Spezialthema zur Seite schiebt, sondern als Transformationsprozess aller Lebensbereiche wahrnimmt und damit der Herausforderung für die Bildung gerecht wird. Dem Faktor Digitalisierung lässt sich schulisch also nicht mehr mit einer PowerPoint-AG am Nachmittag beikommen. Unser Leben unterliegt einer derart massiven Umwälzung, dass unser Bildungsengagement hier den ganzen Menschen in den Blick nehmen muss. Die uralten anthropologischen Themen „Identität, Begegnung, Kommunikation, Verantwortung, Teilhabe, Hoffnung, Liebe, Weltanschauung und -erschließung …” werden unter dem digitalen Vorzeichen neu und anders ausgehandelt. Wenn also „Digitalisierung” nicht etwas „Fremdes”, „technisch Messbares” ist, sondern uns und die Gesellschaft zutiefst persönlich betrifft, unsere Lebenswelt tiefgreifend prägt, dann sollten wir eher (mit Jörissen, 2014) von einer „Kultur der Digitalität” sprechen. Dazu muss sich Bildung in Schule und Kirche verhalten, wenn sie ihren ureigensten Auftrag am Menschen ernst nimmt: die ganzheitliche Begleitung bei der Entwicklung der Persönlichkeit.
Für das System Schule bedeutet dies eine enorme Herausforderung. Deshalb versucht hier mein Arbeitsbereich „Medienbildung” des RPI zu unterstützen, indem entsprechende Unterrichtsbausteine für die Grund- und weiterführenden Schulen entwickelt, an einer digitalen Didaktik gearbeitet, die Lehrkräfte fortgebildet und die Schulleitungen bei der Entwicklung eines Medienkonzeptes begleitet werden. Die Schülerinnen und Schüler können ebenfalls einbezogen werden: Sie müssen für dieses Thema nur sehr selten extra motiviert werden.
Grundsätzlich muss aber bei der Ausbildung von Lehrkräften und Pfarrern früher angefangen werden: Bereits im Studium und Referendariat/Vikariat muss die o.a. Kultur der Digitalität immer schon auf der Ebene der Fertigkeiten (digitale Werkzeuge bedienen können) und der Kompetenzen (Hintergrundwissen, Lebenswelt) berücksichtigt werden. Ich würde mir wünschen, dass in beiden Ausbildungsgängen deutlich mehr Unterstützung gewährleistet wird. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist nämlich, dass jüngere Menschen alle diese Kenntnisse schon in den Beruf mitbringen. Dem muss ich auch aufgrund meiner eigenen Abordnung an die Universität Würzburg oder meiner Erfahrungen mit der Universität Kassel widersprechen. Sobald die Kolleginnen und Kollegen dann in Amt und Würden sind, wird eine zusätzliche Einarbeitung in das Thema als Überforderung wahrgenommen. Als Fortbildner erlebe ich Veranstaltungen anfänglich oftmals als angstbesetzt: „Auch das noch!” Oder: „Gleich lösche ich das Internet …”
LuKi: Wie setzen denn zum Beispiel Religionspädagogen dies nun um?
Müller: Zunächst einmal gilt auch für den Religionsunterricht (RU), dass wir mit Neuen Medien auch ganz neue Möglichkeiten der Veranschaulichung, digitalen Produktivität und Partizipation haben. Hier bieten sich echte Chancen für selbstorganisierten, entdeckenden, differenzierten Unterricht.
Darüber hinaus sollte sich der Religionsunterricht unbedingt in die Debatte um eine digitale Ethik einmischen. Hier ist unser Proprium die Menschenwürde, die nicht durch eigene Leistung verdient werden kann, ein m.E. unverzichtbarer Orientierungspunkt. Gerade bei den Herausforderungen durch Hatespeech und Fakenews kann der RU auf die Relevanz eines digitalen Dekalogs verweisen, der ein menschliches (!) Miteinander auch in der erweiterten Realität ermöglicht.
In diesem Zusammenhang veranstalten wir zurzeit z.B. mehrere ökumenische Tagungen in Kooperation mit den Landesmedienanstalten, auf denen die Materialien des www.internet-abc.de speziell für den Religionsunterricht nutzbar gemacht werden. Das zentrale Anliegen der Plattform ist, dass sich schon Grundschulkinder sicher im Netz bewegen können. Und auch hier können die 10 Gebote als Gerüst für ein gelingendes Miteinander entdeckt werden, wenn es um z.B. um Urheberrecht („Du sollst nicht stehlen”) oder Cybermobbing geht („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden”).
Auch der Religionsunterricht lebt insbesondere von der Anschaulichkeit. Mithilfe von Virtual-Reality-Brillen oder auf dem Smartphone eingeblendeten Zusatzinformationen (augmented reality / erweiterte Realität) lassen sich ganz neu sogenannte heilige Räume erschließen. Die erlebte Atmosphäre, Zeichen, Symbole, Gegenstände ermöglichen es, spannend eigene und auch fremde Erfahrungen mit dem Glauben zu machen. In Kooperation mit der Universität Würzburg haben wir dazu Unterrichtseinheiten entwickelt, die auch in der Konfirmandenarbeit Anwendung finden können.
Im Unterschied zur Filmarbeit, die ebenfalls das Ziel Anschaulichkeit verfolgt, konsumieren hier die Schülerinnen und Schüler nicht nur Informationen, sondern werden hier selbst zum Subjekt und Gegenüber in authentischen Lehr-Lern-Szenarien. So kann das Fremde kennengelernt und Ängste sowie Vorurteile abgebaut werden.
Gerade in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft spielt die Begegnung mit Menschen, die ihrem Glauben im Alltag Ausdruck verleihen, eine wichtige Rolle, um ins Gespräch zu kommen, d.h. sich selbst gegenüber einem religiösen Standpunkt zu verhalten, sich zu positionieren. Hier bietet eine digitale Infrastruktur bislang ungekannte Möglichkeiten. In diesem Zusammenhang berate ich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bei ihrem Projekt eines Globalen Pädagogischen Netzwerks: Über die Plattform www.gpenreformation.net können Lehrende und Lernende voneinander lernen, was Glaube in unterschiedlichen kulturellen Kontexten bedeutet.
Und nicht zuletzt sei auf das virtuelle religionspädagogische Institut www.rpi-virtuell.de hingewiesen, das für den RU einen riesigen Materialpool, Newsstream, virtuelle Gruppenräume und einen Baukasten für eigene Internetseiten bereithält.
LuKi: Welche Chancen und welche Risiken sehen Sie persönlich bei der Erreichung des Ziels der „digitalen Schule“?
Nicht erst seit der Hattie-Studie wissen wir um die zentrale Bedeutung der Lehrkraft als erkennbares Gegenüber der Lernenden für gelingenden Unterricht. Das Projekt „Digitale Schule” wird nun oftmals fälschlich dazu in Konkurrenz verstanden. Der Einsatz einer digitalen Lernumgebung bedeutet gerade nicht, die Lehrkraft abzuschaffen oder eine neue Methode, einen Lernkanal über andere zu stellen und damit analoge Lernformen abzuschaffen. Die Digitalisierung eröffnet aber ein ganz neues Repertoire an Methoden mit der Chance, nicht nur bei Anschaulichkeit, sondern auch bei Differenzierung, selbstgesteuertem / entdeckendem Lernen neue Wege zu gehen, neue Spielräume für die Bildung zu eröffnen.
Wir waren in der Vergangenheit mitunter leider unglaublich erfolgreich dabei, viel Geld für „tote“ Technik auszugeben, ohne dass dies den Unterricht maßgeblich verbesserte, sprich den Schülerinnen und Schülern zugutekam. Wichtig ist daher, bei den Planungen stärker den Lehrkörper einzubinden und gemeinsam für die jeweilige Schule ein überzeugendes Konzept mit didaktischen Ziele, klar benannter Ausstattung und vor allem einer nachhaltigen Fortbildungsstruktur zu erarbeiten.
Problematisch ist, dass oftmals die Schulen das Thema überfordert. Sobald ein Nacktfoto auf Handys kursiert oder eine Schülerin oder ein Schüler sich im WhatsApp-Chat ausgegrenzt bzw. gemobbt fühlt, schlagen die Wellen hoch. Dann wird oftmals ein Medienpädagoge gerufen, der diese Störung „behandeln“ soll. Damit wird die Lösung des Problems an Externe abgegeben. Haben sich die Wogen geglättet, spielt das Thema Digitalisierung keine Rolle mehr, wird als für den Unterricht störend oder gar als Zeitverschwendung betrachtet. Das wird aber der gewaltigen Transformationskraft der Digitalisierung nicht gerecht. Nötig ist hier ein pädagogisches Konzept, das die Lehrkräfte in die Verantwortung nimmt und gleichzeitig nicht alleine lässt. Pädagogik hat hier das große Potential der Prophylaxe. Und wenn es dann trotzdem zum Problem kommt, kann auf eine Haltung der Schülerinnen und Schüler zurückgegriffen werden, die die digitale Dynamik versteht und sich ihr gegenüber auch selbstbewusst verhalten kann.
LuKi: Was bedeutet „Medienkompetenz“ bei Kindern und Jugendlichen?
Zuletzt wurde immer mal wieder zwischen „Digital Natives” und „Immigrants” in wenig hilfreicher Weise unterschieden: Dass Kinder mit dem mobilen, allgegenwärtigen Internet aufwachsen, hat zur Folge, dass durch Unbekümmertheit und durch einen sehr fehlerfreundlichen Umgang mit den mobilen Endgeräten sehr schnell bestimmte Fertigkeiten erlernt werden; das haben sie älteren Nutzenden (oder auch Internet-Verweigerern) voraus. D.h. allerdings nicht, dass damit auch Reflexionsvermögen und Hintergrundwissen einhergeht, also dass die jungen Nutzerinnen und Nutzer wissen, „was das Internet mit mir macht, wenn ich etwas mit/in dem Internet mache“. Hier sind dringend Bildungsprozesse z.B. zu den Themen „Datenschutz“, „Urheberrecht“ erforderlich. Mit Sicherheit gibt es hier auch Fortbildungsbedarf; ein Fachwissen aufseiten der Lehrenden kann nicht automatisch vorausgesetzt werden. Gleichzeitig darf fehlendes Hintergrundwissen nicht bedeuten, dass Lehrkräfte diese Themen nicht aufgreifen, da hier Lebenserfahrung und Reflexionsfähigkeit gewinnbringend eingebracht werden können. Hier sind die Erwachsenen Experten und müssen sich unbedingt als interessiert Beobachtende und Fragen Stellende pädagogisch in die Debatte einmischen. Anforderungssituationen wie z.B. Hatespeech, Fakenews, Cybermobbing, Sexting etc. haben im Zuge der Digitalisierung ein völlig neues Forum erhalten, sind aber im Kern Herausforderungen, die es immer schon gab. Entlastend für sich überfordert fühlende Lehrkräfte kann hier sein, dass sie den Lernenden die Möglichkeit bieten, deren technisches Expertenwissen einzubringen. Das bedeutet auch eine Veränderung der Lehrerinnen- /Lehrerrolle.
Interessant wird es, wenn ein Lernen mit Neuen Medien über Neue Medien nicht nur allgemeinpädagogisch erfolgt, sondern fachdidaktisch aufgegriffen wird. Dadurch kann verhindert werden, dass die durch das Internet bedeutend erweiterte „Realität“ auch tatsächlich im Unterricht verbindlich als veränderte Lebenswelt berücksichtigt wird und nicht in das Belieben einiger weniger Kolleginnen und Kollegen gestellt wird. Dafür muss dieses Querschnittsthema im Lehrplan aller Fächer verortet sein.
LuKi: Wie könnte Kirche und Konfirmandenunterricht in Zukunft aussehen?
Die EKD-Synode hatte sich auf ihrer Tagung im Jahre 2014 intensiv mit dem Thema „Digitalisierung” auseinandergesetzt. Seitdem hat es unter dem Schlagwort #DigitaleKirche einige Aufbrüche gegeben, die von der zentralen Frage ausgehen, wie die Kommunikation des Evangeliums in einer digitalen Gesellschaft gelingen kann: Wenn sich unzählige Menschen im Netz tummeln, muss Kirche in der Nachfolge Christi ihnen auch dort nachgehen. Wenn das Netz ganz neue Begegnungsräume eröffnet, in denen Themen platziert und Kommunikation erfolgt, muss Kirche auf Grundlage der Guten Nachricht auch hier Ansprechpartnerin und Impulsgeberin sein. Ich würde es so zusammenfassen: „Gute Kanäle für die Gute Nachricht!”
All dies stellt ganz neue Anforderungen an Pfarrer. Um der drohenden Überforderung zu entgehen, können hier Kommunikationskanäle in andere Hände gegeben werden – nachdem feste Regeln vereinbart wurden. Zusätzlich bieten wir vom Institut neben Medien-Modulen im Vikariat entsprechende Fortbildungen an, die ein digitales Training und einen Erfahrungsaustausch über die vielen guten Praxisbeispiele ermöglichen: Es gibt verschiedene Apps, durch die Jugendarbeit auch unter der Woche begleitet werden kann. Hier können organisatorische Absprachen und inhaltlicher Austausch multimedial erfolgen. Neue Medien bieten in ganz neuer Weise die Chance, Inhalte anschaulich zu präsentieren und mit einer bestimmten Öffentlichkeit zu teilen. Dabei kann wertschätzend und interessiert auf die Expertise und die Fertigkeiten der jungen Menschen zurückgegriffen werden. Diese können nun partizipativ mit ihren eigenen Medien die Konfirmandenarbeit mitgestalten. Diese gezielte Berücksichtigung ihrer eigenen Lebenswelt mit ihren eigenen Kommunikations-, Teilnahme- und Teilgabeformen kann sehr motivierend wirken.
Dies ermöglicht zumindest theoretisch eine ganz andere Intensität von Kontaktpflege, weil ich damit quasi meine Gemeinde oder Konfigruppe immer in der Hosentasche dabei habe. Dabei können eigene Inhalte ohne viel Aufwand produziert und geteilt werden. Fotos, Videos, Texte, Audiodateien können eine neue Art der „Nähe” erzeugen. Die sogenannte „Wolke der unsichtbaren Zeugen“ erhält in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung. Auch Transzendenz lässt sich in Zeiten der vorherrschenden Algorithmen plötzlich ganz neu erklären. Dabei lassen sich auch Unterschiede aufzeigen, ob mich ein Internet-Gigant aus wirtschaftlichen Interessen auf „Klick und Wisch” begleitet und ausspäht oder aber in Psalm 139 Gottes Allgegenwart als heilsame Verheißung geschildert wird. Der KU kann das digitale Spielen mit Identitäten und die Überwachung durch Algorithmen zum Thema machen, indem dem digitalen Leistungsdruck (sich präsentieren zu müssen) die Rechtfertigung, der nicht zu verdienende Wert des Menschen aus Gottes Sicht entgegen gehalten wird.
Früher haben wir Audio-Kassetten von Predigten an die Menschen verteilt, die nicht am Gottesdienst teilnehmen konnten. Heute gibt es neben einem TV-Gottesdienst noch ganz andere Möglichkeiten, Menschen außerhalb des Kirchengebäudes zu erreichen und dabei inhaltlich zu beteiligen. Mit sublan lassen sich Gottesdienste nicht nur streamen, sondern sind auf Dialog und Beteiligung der Gemeinde angelegt: Vor Ort oder im Internet können sich Besucherinnen und Besucher mit dem eigenen Smartphone mit ihren Fragen, Anregungen, Zweifeln und Gebetsanliegen live einbringen.
Alle digitalen Möglichkeiten zeichnet aus, dass Interessierte orts- und zeitunabhängig davon profitieren können. Das Evangelium ist sozusagen immer nur einen Klick bzw. Tipp entfernt. Impulse für die Auseinandersetzung mit Glaubensfragen können nun auch an ganz anderen Plätzen und unabhängig vom direkten Gespräch mit dem Pfarrer gesetzt werden. So kann ein digital unterstütztes Pilgern, eine Smartphone-Rallye zu biblischen Themen oder auch ein abendliches Webinar als Glaubensgrundkurse angeboten werden – und das auch noch interaktiv.
Dabei darf das Potential der Partizipation nicht unterschätzt werden, das bereits in anderen Kontexten zu einer (mitunter unerwarteten) Demokratisierung geführt hat. Wenn der Wunsch nach Beteiligung ernst genommen wird, dann werden auch viele Menschen „mitreden” wollen. Das kann Folgen haben für eine hierarchisch gedachte Kirchenstruktur.
LuKi: Was sollten Gemeinden dabei unbedingt beachten?
Für die Gemeinden spielt insbesondere das Thema Datenschutz eine wichtige Rolle. Es fällt vielen Menschen leichter, sich im Schutz der Anonymität zu äußern. Diese kann aber im Internet nur bedingt gewährleistet werden. Manche Äußerungen, die im Chat schriftlich fixiert werden, würden später eventuell nicht mehr so getroffen werden. Das gilt schon für die Telefonseelsorge und erfordert eine besondere Sensibilität für die digitale Kommunikation. Das Seelsorge-Geheimnis ist für den vertrauensvollen Austausch unaufgebbar.
Das Recht am eigenen Bild bleibt gerade in social media Kanälen oftmals gerne unbeachtet. Diese Kommunikationsform lebt von der Sichtbarkeit der Teilnehmenden und kann die Lebendigkeit der Gemeinde oftmals besser abbilden als ein Kurzbericht im Gemeindebrief. Trotzdem müssen hier die Personen gefragt werden. Das verdeutlicht schon die Situation der Konvertiten, für die eine digitale Sichtbarkeit oftmals nicht unproblematisch ist.
Bei der digitalen Kommunikation hat sich ein Monopolist fest auf den Smartphones eingenistet: Gerade WhatsApp ist aber aus Datenschutz-Perspektive hoch problematisch. Hier sollten auch Alternativen wie z.B. die App des Schweizer Anbieters „Threema” in den Blick genommen werden. Gerade bei einem sehr persönlichen Austausch über den Glauben sollten die Menschen im digitalen Anbieter-Dschungel nicht allein gelassen werden. Entlastend ist zudem, wenn von vorneherein nicht das Kriterium der Verbindlichkeit an diesen Kommunikationskanal angelegt wird: Instant Messenging bedeutet keinesfalls „Instant Responding”. Wer z.B. in der Jugendarbeit Antworten erwartet, kommt um das persönliche, individuelle Gespräch nicht herum.
Die Homepage ist das digitale Zuhause der Gemeinde. Alle anderen Kanäle (Instagram, Youtube, Facebook, Twitter oder auch Flyer) verweisen lediglich darauf. Es geht also darum, innerhalb der flüchtigen digitalen Kommunikation mit der Internetseite einen Anker anzubieten, der nicht die Geschäftsinteressen amerikanischer Konzerne bedient, sondern der Beheimatung in der eigenen Gemeinde (oder auch darüber hinaus in der Nachfolge Jesu) dient. Alle Medien zielen dann letztlich auf eine Begegnung mit Gott und anderen Menschen. Dazu können Predigten als Audiodateien zum Download bereit stehen. Fotos und Videos wirken für Suchende sehr einladend. Einzelne Personen können sich so vorstellen und die Internet-Recherche für andere persönlicher gestalten. Dadurch wird schnell eine ganz andere Nähe hergestellt. Auch zentrale Glaubensinhalte können im Sinne einer FAQ-Liste (Frequently Asked Questions) in einfacher Sprache und sehr anschaulich kommuniziert werden. Dies verleiht einem Internet-Auftritt inhaltliches Profil.
Bei der nahezu vollständigen Abdeckung durch Smartphones ab einem bestimmten Alter muss dabei bei der Darstellung von digitalen Inhalten immer auch die verschiedenen Endgeräte mitbedacht werden: Responsive Internet-Seiten passen sich der Display-Größe an. Wichtig ist auch die Auffindbarkeit der eigenen Gemeinde: Ist die Kirche auf Karten-Apps verlinkt? Sind dort auch sofort Gottesdienstzeiten ersichtlich?
Bei all den digitale Möglichkeiten ist es wichtig festzuhalten, dass erstens nicht jede Gemeinde digital alles machen kann und muss und dass zweitens digitale Medien nicht in Konkurrenz zu analogen Begegnungen oder zum Gottesdienstbesuch stehen. Medien vermitteln – im Wortsinne und das schon immer. Am Abendmahl ließe sich dieser Gedanke gut lutherisch durchbuchstabieren. Und mit Massenmedien haben wir auf evangelischer Seite schon zu Zeiten Luthers und Gutenbergs Bahnbrechendes erlebt. Also: „Gute Kanäle für die Gute Nachricht!”
Literatur:
rpi-impulse - Beiträge zur Religionspädagogik aus EKKW und EKHN, Digitale Kompetenzen vermitteln im Religionsunterricht und der Konfi-Arbeit, Heft 3-2018
Karsten Müller, Gute Kanäle für die Gute Nachricht? Eine Ermutigung zur Experimentierfreude mit „Neuen Medien“ i.S. einer lebensweltorientierten kirchlichen Jugendarbeit, in: Praxis Gemeindepädagogik 1-2019, S.30f.
Stefan Mendling u. Karsten Müller u.a., Neue Medien in der Praxis, in: Handbuch Konfi-Arbeit, Thomas Ebinger u.a. (Hg.), Gütersloher Verlagshaus 2018, S. 318ff.
Karsten Müller, Gebet 2.0 - Transzendenz in Zeiten der Digitalisierung, in: Praxis Gemeindepädagogik 1-2018, S.48f.
Volker Jung, Digital Mensch bleiben, Claudius Verlag 2019
Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft, Lesebuch zur Tagung der EKD-Synode 2014 in Dresden, Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik gGmbH
Bildung in der digitalen Welt, Strategie der Kultusministerkonferenz in der Fassung vom 07.12.2017
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Jugendfestival 2019 erneut in Northeim
Das diesjährige Jugendfestival (JuFe) des Jugendwerks der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) findet vom 3. bis zum 6. Oktober im Gymnasium Corvinianum in Northeim statt. Das JuFe ist ein Angebot für Jugendliche ab der Konfirmation. Zurzeit arbeitet ein 14-köpfiges Team an den Vorbereitungen des Festivals. Das Team von selk.de macht mit Informationen zu der Großveranstaltung auf das JuFe aufmerksam.
Zum Programm der Festivals gehören Workshops, Gesprächsangebote, Seelsorgemöglichkeiten, Konzerte, Andachten und Gottesdienste in verschiedenen Formen. In Plenumsveranstaltungen mit allen Teilnehmenden werden Impulse zum Thema gesetzt. Daneben gibt es aber auch viel Zeit zum Reden, Singen und Tanzen. Das JuFe bietet die Möglichkeit, andere Jugendliche wiederzusehen oder kennenzulernen und neue Freundschaften zu schließen.
„Friede, Freude, Eierkuchen“: Unter diesem Motto findet das JuFe in diesem Jahr statt.
Das JuFe-Team zum Motto:
„Friede, Freude, Eierkuchen“; Mit der Jahreslosung 2019 aus Psalm 34,15 werden wir ermutigt: „Suche Frieden und jage ihm nach“. Frieden ist also nicht selbstverständlich. Ich muss ihn suchen, ihm sogar nachjagen. Sich um Frieden zu bemühen ist etwas sehr Aktives. Das fällt mir also nicht einfach so in den Schoß. Das Ringen um passende Lösungen gehört dazu.
Im Epheserbrief schreibt der Apostel, dass Jesus Christus der Friede ist, der Zäune der Feindschaft überwindet. (Epheser 2,14). Unsere Friedensbemühungen stehen auf dem Fundament des Friedens, den Jesus durch Tod und Auferstehung geschaffen hat. Weil ich mit Gott versöhnt bin, kann ich den Frieden Gottes weitergeben.
In diesen Wochen gehen viele Schüler auf die Straße und demonstrieren. Viele zum ersten Mal in ihrem Leben. Weil der Zustand der Schöpfung beziehungsweise der Zerstörung der Schöpfung ihnen Angst macht. Ist unsere westliche Lebensweise, die wir alle so genießen, friedvoll mit der Schöpfung in Einklang zu bringen?
Der politische Friede ist in unserem Land seit über 70 Jahren stabil. Gott sei Dank. Selbstverständlich ist er nicht. Seit einigen Jahren werden Stimmen des Nationalismus und der Ausgrenzung, des Rassismus und des Hasses wieder laut. Wie kann dem friedlich, aber bestimmt begegnet werden?
Beim JuFe werden wir zusammen Gemeinschaft erleben, den lebendigen Gott feiern, den Glauben ausprobieren, Fragen stellen und nach Antworten suchen, Einstellungen überprüfen und bearbeiten, Zweifel aushalten und uns unseren Glauben stärken lassen.
Zahlreiche Workshops bieten Gelegenheit, sich mit ganz unterschiedlichen Aspekten zu beschäftigen. Unter anderem werden durch die Theologiestudenten Benjamin und Tobias Schütze die Themen „Ökumene – religiöser Friede?“ und „Die Kirche in der friedlichen Revolution in der DDR“ behandelt. Pfarrer Sebastian Anwand stellt zehn Thesen zu Frieden und Vergebung vor. „Funktionierende Kommunikation – Wie kann das gehen?“, fragt Elisabeth Quast, Studentin der Erziehungswissenschaften, Pfarrer Matthias Forchheim ergänzt: „Nach dem Knall ist vor dem nächsten ... – Wie entschärfe ich alltägliche Konflikte?“. Pfarrvikar Daniel Schröder stellt das „Erlebnis ‚Glaube‘“ vor. In „Worship – Learn and pray“ mit Schülerin Katharina Schröder und Schüler Angelus Dreß geht es um Lobpreis(lieder). Kreativ geht es zu in Workshops, in denen getextet, gerappt, fotografiert und modelliert wird. Insgesamt 30 Workshops stehen auf dem attraktiven JuFe-Programm.
Alle Informationen: www.jufe.org
Der Sonntag – ein besonderer Tag
Dr. Andrea Grünhagen, Pastoralreferentin der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) und als Referentin für Theologie und Kirche im Kirchenbüro der SELK in Hannover tätig, hat ein Andachtsbuch vorgelegt: Sonntag – Impulse für das Kirchenjahr, Doris Michel-Schmidt, Journalistin und Buchautorin sowie frühere Kirchenrätin der SELK, stellt das Buch vor und würdigt es. Das Buch ist in diesem Jahr im Verlag Edition Ruprecht (Göttingen) erschienen, hat 236 Seiten und kostet 19,90 Euro. ISBN: 978-3-8469-0307-0
Der Sonntag scheint für viele ein schwieriger Tag zu sein. Scheinbar mussten nahezu alle Kinder früherer Generationen sonntags wider ihren Willen fein gekleidet mit der Familie spazieren gehen oder langweiligen Verwandten einen Besuch abstatten. Kein Wunder, dass irgendwann der Begriff der Sonntagsneurose aufkam. Was macht man an einem freien Sonntag, wenn man nichts muss? Da haben es Christen gut, die (auch) am Sonntag Gottes Wort hören können und sich damit beschäftigen. Nicht, weil sie müssen, sondern weil es sie danach verlangt. „Du sollst den Feiertag heiligen“, dieses Gebot meint nichts anderes, als dass man – immer, nicht nur sonntags, aber da eben ganz besonders – „Gottes Wort im Herzen, im Munde und in den Ohren habe“, wie Luther das in seinem großen Katechismus formuliert. Das bedeutet „heiligen“ – weil das Wort die Kraft hat, „wenn man es mit Ernst betrachtet, hört und mit ihm umgeht, dass es niemals ohne Frucht bleibt, sondern immer neue Erkenntnis wirkt und neues Verlangen nach ihm weckt und ein reines Herz und reine Gedanken schafft“, so Luther.
Wenn man jemanden hat, der einen zu dieser Beschäftigung mit Gottes Wort animiert, umso besser. Andrea Grünhagen tut das mit ihren Texten zu den Sonn- und Feiertagen entlang des Kirchenjahres. In ihrem Andachtsbuch greift sie biblische Verse aus den gottesdienstlichen Lesungen auf und spannt eine Brücke zum Leser. In wenigen Sätzen ist die Verbindung da zur Aktualität, zu der Welt heute, in der wir leben. Sie stellt Fragen, die nachdenklich machen, aber auch neugierig, und die mitten ins Thema des Sonntags führen. Die promovierte Theologin und Referentin für Theologie und Kirche im Kirchenbüro der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) belässt es aber nicht bei den Fragen, sondern weiß sie klug und sachkundig einzuordnen, gibt hilfreiche Antworten und Hinweise zum Verständnis. Wie frisch klingen dadurch die biblischen Worte. Wie unverbraucht wirkt das, was Gott uns in ihnen sagt.
Andrea Grünhagen schafft das mit einer Sprache, die alltagstauglich ist, verständlich, aber nicht anbiedernd, mit Beispielen, die den Text illustrieren, ihn ins Heute umsetzen und anschaulich machen. Die aber eben tatsächlich auch in die Bibel hineinführen und sich nicht auf Umwegen verlieren. Sie spricht den Leser immer wieder direkt an, regt so zum Nachdenken an, als ob sie „bei mir auf dem Sofa sitzt und mir was erzählt“, wie es ein Leser formuliert hat.
Andrea Grünhagen braucht keinen pädagogischen Zeigefinger; sie doziert nicht. Und trotzdem lernt man ganz „nebenbei“ eine Menge über lutherische Theologie und Kirche. Die Texte sind kurz, jeweils maximal zwei Seiten. Aber sie bringen in ihrer kompakten Zuspitzung das jeweilige Wort Gottes auf den Punkt. Und sie führen durch das Kirchenjahr, das dadurch mit seinen unterschiedlichen Prägungen besonders deutlich gemacht wird. „Selbst vielen regelmäßigen Kirchgängern ist gar nicht bewusst, dass jeder Sonn- und Feiertag ein spezielles Thema hat“, schreibt die Autorin im Vorwort. Gerade in der Trinitatiszeit, die eher unspektakulär vom Frühjahr bis in den Herbst dauert, ist es eine gute Übung, jeden Sonntag mit seinem spezifischen Thema in den Blick zu nehmen. Und dann die Lesungen, die Lieder und die Predigt im Gottesdienst anders, vielleicht konzentrierter zu hören.
Zum Beispiel am 12. Sonntag nach Trinitatis mit seinem Thema „Heilung“: Die Lesung aus dem Markus-Evangelium erzählt die Geschichte von der Heilung eines Taubstummen. Es geht an diesem Sonntag um die Situation aller Menschen, so Andrea Grünhagen. „… wir sind von Natur aus in Bezug auf Gott so: blind, also unfähig ihn zu erkennen, taub für seine Botschaft und stumm, das heißt, unfähig, ihm zu antworten.“ Erst das „Schöpferwort“ Jesu, sein „Hefata!“, durchbricht diese Mauer der Stille um den Taubstummen herum. An der Geschichte wird auch deutlich, wie ein Mensch zum Glauben an Christus kommt. „Nämlich nur und immer und jedes Mal, indem Gott selbst sein ‚Hefata!‘ spricht“. Grünhagen macht an dieser Stelle ganz klar: „Der Glaube an Gott ist kein Angebot, das der Mensch von sich aus annehmen kann. Er kann sich nicht bekehren, sich nicht für Gott entscheiden. (…) Gott selbst hat uns aus dem Alptraum der Gottesferne, in dem wir blind, taub und stumm in Bezug auf den Glauben waren, herausgeholt. Er hat auch bei uns sein ‚Hefata!‘ gesprochen.“
Neben den Sonntagen des Kirchenjahres nehmen in dem Buch die Gedenktage einen wichtigen Platz ein. Sie sind wichtig, so Andrea Grünhagen, „weil sie die Erinnerung, dass die Geschichte der Kirche größer ist als die einer Einzelgemeinde oder eines Christen. Die ‚Wolke der Zeugen‘ (Hebräer 12,1) ist durchaus eine Realität, die wir nicht vergessen sollten.“ Dazu gehören nicht nur die Apostel, dazu gehört St. Martin (am 11. November), dazu gehört Elisabeth von Thüringen (am 19. November), Nikolaus natürlich (6. Dezember), dazu gehört der Tag der Darstellung des Herrn im Tempel (2. Februar) und der Tag der Ankündigung der Geburt Jesu (25. März); dazu gehört der Johannistag als Erinnerung an Johannes den Täufer (24. Juni) und einen Tag später der Gedenktag der Augsburgischen Konfession (25. Juni); dazu gehört der Tag des Besuchs Maria bei Elisabeth (2. Juli) und der Tag des Märtyrers Laurentius (10. August), der Tag des Erzengels Michael und aller Engel (29. September) und der Gedenktag der Reformation (31. Oktober).
Ja, an diese Zeugen des Glaubens zu erinnern, durchaus auch in einem besonderen Gottesdienst, könnte der „geistlich-liturgischen Verarmung, die in manchen Gemeinden in dieser Hinsicht herrscht“, wie es die Kirchenhistorikerin Grünhagen formuliert, etwas entgegensetzen.
Die liturgischen Farben des Kirchenjahres werden in dem Buch mit farbigen Balken markiert. Einleitend zu jeder Kirchenjahreszeit stehen jeweils Liedverse aus dem Gesangbuch und Gebete, die Propst Gert Kelter formuliert hat, ebenso wie die Gebete am Schluss des Buches.
Der Sonntag ist ein besonderer Tag, nicht bloß, weil da die (meisten) Geschäfte geschlossen haben. Sich am Sonntag wenigstens den einen kurzen Text in diesem Buch vorzunehmen und darüber nachzudenken, macht den Tag zu einem besonderen – probieren Sie es aus!
Bethlehem-Voices-Jubiläumskonzert
Die in der Bethlehemsgemeinde Hannover der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) beheimateten „Bethlehem Voices“ feiern ihr 20-jähriges Bestehen. Der Chor besteht zurzeit aus rund 25 Sängerinnen und Sängern, die zwischen 16 und 50 Jahre alt sind. Das Repertoire umfasst vor allem Gospels und Sacro-Pop-Songs. Aus Anlass des Jubiläums gibt der Vokalchor ein Jubiläumskonzert, das zweimal zur Aufführung kommt und zu dem der Chor herzlich einlädt!
20 Jahre Bethlehem Voices | Jubiläumskonzert:
Samstag, 24. August 2019, Bugenhagenkirche Hannover (Stresemannallee 34), 15.30 Uhr
Sonntag, 25. August 2019, St. Johannes-Kirche Wunstorf (Albrecht-Dürer-Straße 3), 17 Uhr
Der Eintritt zu beiden Konzerten ist frei!
„Sommer 1999: ein Wohnzimmer in einer Studenten-WG in Hannover. Eine Handvoll junger Leute trifft sich mit mir zur Gründung des ‚Jugendchores‘ der Bethlehemsgemeinde, nachdem mich ein Freund darunter überzeugt hatte, dass es doch viel besser wäre, einen jungen Chor ‚bei uns‘ aufzumachen, statt einen ‚Ältere-Damen-Chor‘ zu übernehmen, wie ich es als kleinen Job und als Übung für meinen Chorleitungsunterricht vorhatte.“ – So schildert Susanne Gieger die Geburtsstunde der Bethlehem Voices, die den jungen Chor der Bethlehemsgemeinde der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) in Hannover bilden. Die damalige Entscheidung habe sie keinen Moment lang bereut, sagt die Gymnasiallehrerin, „auch wenn es natürlich manchmal einen langen Atem brauchte, um über kleine Durststrecken hinwegzukommen und immer wieder neue, passende Noten zu finden.“
Als sehr praktisch für die weitere Entwicklung des Chores habe sich erwiesen, dass sich in Hannover als Studentenstadt viele junge Leute sammeln und dass der Name „Bethlehem Voices“ dem Chor einen perfekten Platz in der alphabetischen Liste auf der Homepage der Chöre Hannovers bot und immer noch bietet. Neben Sängerinnen und Sängern aus den beiden örtlichen SELK-Gemeinden – „inzwischen schon die halbwegs nächste Generation nach den Gründern!“ – bestehen die Voices inzwischen hauptsächlich aus Sängerinnen und Sängern aus anderen Gemeinden oder auch einzelnen ohne christlichen Background. „Einige suchen einfach einen Chor zum Singen und genießen außerdem die Gemeinschaft, ein paar sind ehemalige Schüler von mir, die nach dem Abitur den Oberstufenchor verlassen mussten“, sagt die engagierte Chorleiterin: „Besonders gerührt hat mich der erste Choreinsatz im Gottesdienst eines damals noch kirchenfernen Sängers, der fragte, ob es ihm schaden würde, wenn er das ‚Vaterunser‘ mitbeten würde.“
Überhaupt die christliche Ausrichtung: „Das Besondere der ‚Bethlehem Voices‘ ist auch, dass uns nicht nur das Singen, sondern auch unser Glaube vereint – und das ist, so haben wir von einem Sänger gehört, der sich auch in anderen guten Chören Hannovers getummelt hat, nicht bei allen ähnlich verorteten Chören selbstverständlich.“
All die Jahre sind die Voices auch dem Posaunenchor der Bethlehemsgemeinde sehr verbunden – durch gemeinsame Konzerte, Musiker in Personalunion und gemeinsame Feiern.
Highlights im Leben des Chores seien mit Sicherheit die Chorfreizeiten gewesen, die endlich Zeit geboten hätten, die zu kurz kommenden Gespräche während und nach der Chorprobe zu führen, und Gelegenheit gewesen seien, um die Gemeinschaft zu stärken – daher seien die Chorfreizeiten auch nie Probenwochenenden gewesen.
Die Kontakte zur örtlichen Musikhochschule boten die Möglichkeit, schnell eine Chorleitungsvertretung zu finden, während Susanne Gieger zweimal für einige Monate ins Ausland beziehungsweise in den Mutterschutz verschwand.
„Nicht denkbar wäre die Chorarbeit ohne die vielen helfenden Hände, die vertretungsweise die Chorprobenleitung, das Kopieren der Noten, die Chorkasse, bei den Konzerten die Technik, die Plakate, das Programmheft und vieles mehr übernehmen“, sagt Susanne Gieger voller Dank – und ergänzt: „Wir sind sehr dankbar, dass uns die Bethlehemsgemeinde all die Jahre unterstützt hat und es auch weiterhin tut. Ebenso bin ich sehr froh, dass wir in Hannover immer mit tollen Bandmusikern beschenkt sind. Nach den Jubiläumskonzerten müssen wir von einem Teil der eingeschworenen Band und auch von einer Handvoll Sänger Abschied nehmen, die Hannover verlassen – aber es wird weitergehen, und die Kontakte werden bleiben.“
Auf die Jubiläumskonzerte freue sie sich besonders und sehe sie als kleines Fest, um Gott für seinen Segen in all den Jahren zu danken, schaut die Chorgründerin nach vorne: „Wir freuen uns auf viele ehemalige Sänger und Musiker und haben deshalb für das Konzert in unserer Stadt diesmal die räumlich größere Bugenhagenkirche im Süden der Südstadt Hannovers gewählt – damit unser Bischof als Zuhörer nicht draußen auf einer Bierbank vor der Kirchentür sitzen muss, wie schon mal geschehen.“
Wer es am 24. August nicht zum Konzert schafft, kann am 25. August in Wunstorf in den Genuss kommen.
Weitere Informationen:
www.selk.de/index.php/newsletter/5047-20-jahre-bethlehem-voices-01-07-2019
www.bethlehem-voices.de
Kirche im Tourismus
Markus Nietzke, Gemeindepfarrer der Kleinen Kreuzgemeinde Hermannsburg und der St. Johannis-Gemeinde Bleckmar sowie Superintendent im Kirchenbezirk Niedersachsen-West der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), beteiligt sich mit seinen Gemeinden seit vielen Jahren an touristisch motivierten Aktionen für Kirchgebäude. Für selk.de erläutert er sein diesbezügliches Engagement.
Herr Superintendent Markus Nietzke, Sie beteiligen sich mit Ihren Gemeinden seit Langem an regionalen und überregionalen Tourismusprogrammen. Stellen Sie uns diese bitte kurz vor.
Viele Menschen sind in der Lüneburger Heide unterwegs, vielfach zu Fuß oder per Fahrrad, auch solche, die in täglich geöffnete Kirchen einkehren, sich die Kirchenarchitektur und Kirchraumgestaltung anschauen, dort verweilen, beten, meditieren und sich eventuell ins Gästebuch eintragen. Dass geschieht nahezu jeden Tag, jetzt im Sommer besuchen sogar Pilgergruppen und Gäste gezielt unsere Kirchen.
Ich beginne mal mit dem „Jakobusweg durch die Lüneburger Heide“. Das ist ein Pilgerweg, der sowohl durch Hermannsburg als auch ganz in der Nähe von Bleckmar entlangführt. Aufmerksam geworden bin ich darauf aus der Presse, als es darum ging, diesen alten Pilgerweg zum Jakobsweg nach Santiago de Compostela neu zu entdecken und eine mögliche Beschilderung der Strecken vorzunehmen. Der Kontakt mit den lokalen Tourismusbehörden brachte weitere Impulse. Und dann besuchte ich auch eine Veranstaltung zum Thema „Kirche und Tourismus“ und erfuhr, dass sich Kirchen ebenfalls mit einreihen könnten, was die Beschilderung anging. Gesagt, getan.
Neben dem Jakobsweg (als echtem Pilgerweg) und dem Heidschnuckenweg (eher ein Wanderweg) gibt es auch einen weiteren Pilgerweg, „Via Romea“ von Stade nach Rom, der durch Bergen führt. Bleckmar gehört als Ortsteil zu Bergen. Wir liegen mit unseren Kirchen sozusagen „direkt auf der Strecke“ alter Pilgerwege.
Was war der Anlass und hat den Ausschlag gegeben, sich für solche öffentlichen Programme zu engagieren?
Am Anfang stand die Faszination des europäischen Pilgerns; ich habe meine Kindheit und Jugend in Südafrika öfter mit Wandern verbracht, dort war Pilgern ein absolutes Fremdwort. Dazu kam dann die Entdeckung bei der Recherche vor Ort: Meine beiden Kirchen im Pfarrbezirk liegen an alten Pilgerwegen. Außerdem fand ich einen Aufsteller („eye-catcher“) im Pastorat der Kleinen Kreuzgemeinde vor, mit dem eingeladen wird in die Kirche als „Haus der Stille“, den ich seit vielen Jahren täglich vor dem Kirchturm aufstelle.
Den Ausschlag hat dann letztlich die Teilnahme am 1. Wandersymposium in der Lüneburger Heide am 6. Juli 2012 in Hermannsburg gegeben, als dort auch über das Pilgern als touristische Chance berichtet wurde. Latent habe ich mich seit 1996 mit dem Thema befasst. Die gezielte Suche nach Fortbildungen führte mich nach Hannover – in der Hannoverschen Landeskirche gibt es ein Fachreferat für Kirche und Tourismus – und vor allem drei Fortbildungen der Nordkirche in Wismar, Rostock und Kiel. Dort wurden mir von Fachleuten (auch echten Pilgern) wichtige Impulse gegeben, insbesondere zum Thema „Offene Kirche“ und „Gastgeberfreundliche Gemeinde“.
Inwiefern ist die touristische Präsenz auch eine Faktor in der Öffentlichkeitsarbeit?
Handwerk ohne Klappern gibt es nicht. Hier ist von den öffentlichkeitswirksamen Verleihungen der Beschilderungen „Offene Kirche“, „Kirche am Jakobusweg“ und „Radfahrerkirche“ zu reden. Berichte in der Presse und den sozialen Medien bringen Kirche und ihr besonderes und einzigartiges Angebot der Zuwendung Gottes zu uns Menschen auf andere Weise ins Gespräch als man üblicherweise vermutet. Das ist eine Chance, eine Nische, und für mich persönlich eine sehr geeignete Weise, damit umzugehen, dass viele Menschen heute die Kirche und ihre Gottesdienste, Andachten und andere Veranstaltungen nur noch als „Kirche-für-den-Moment“, wie ich es gerne nenne, wahrnehmen. Ich habe inzwischen weit mehr Andachten mit Pilgergruppen mit größeren Teilnehmerzahlen gefeiert als zum Beispiel Teilnehmer an Passionsgottesdiensten in zehn Jahren Tätigkeit im Pfarrbezirk zählen können.
Eine Aussendung eines Pilgers aus unserer Gemeinde (auf dem Weg nach Santiago) wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben – wo findet sich denn auf die Schnelle ein Pilgersegen in einer unserer Agenden für den Gottesdienst? Not macht erfinderisch – und zum Glück gibt es gute, qualifizierte Literatur zum Thema.
An dieser Stelle möchte ich mich dafür bedanken, dass diese Anliegen im Kirchenbüro der SELK sehr wohlwollend aufgenommen wurden. Kirchenrat Schätzel hat offiziell für die SELK an den beiden Kirchen öffentlich-wirksam die entsprechenden Beschilderungen an den Kirchen in einem geistlichen Rahmen mit Andacht, Liedern und Gebet enthüllt.
Wie lässt sich der Aufwand für die beteiligten Gemeinden beschreiben?
Die Kirchen sind täglich geöffnet – mindestens von Ostern bis zum Reformationsfest. Da muss die Kirche aufgeschlossen werden. In beiden Gemeinden ist das problemlos möglich. Da und dort wird eine Flasche Mineralwasser aus dem Wasserkasten im Vorraum der Kirche mitgenommen. Das Angebot ist im Sinne der kirchlichen Gastgeberschaft nur eine kleine Aufmerksamkeit für Durchreisende. Ich lege regelmäßig meine Predigten und öfter mal die Wochenandacht zur Mitnahme aus – sie sind häufig nach einer Woche vergriffen.
Der Aufwand ist also im Prinzip sehr überschaubar: geöffnete Kirche, eventuell Blumenschmuck, ein Gästebuch zum Eintragen und etwas zum Mitnehmen. In beiden Kirchen stehen immer frische Blumen zum Sonntag auf dem Altar – sie halten aber gut eine Woche. Nach einer Hochzeit, Konfirmation oder Taufe bleibt der Schmuck inzwischen drei, vier Tage hängen und zeigt auf: Hier wird im Haus Gottes gelebt. Das Gästebuch ist immer da, ein Stift liegt bereit. Dort werden Gebetsanliegen, Grüße oder ein anderes Lebenszeichen eingetragen. Im Laufe der Zeit kamen für mich Postkarten zum Mitnehmen für Gäste, Pilgerinnen und Pilger dazu. Im Sinne des Interesses von Touristinnen und Touristen mit Smartphones gibt es an markanten Stellen in der Kleinen Kreuzkirche QR-Codes zum Einscannen.
Sie sind in diesem Bereich bereits seit vielen Jahren – für die SELK durchaus auch in einer gewissen Vorreiterrolle – aktiv. Wie fällt ein erstes Fazit aus?
Früher habe ich in Gesprächen zu diesem Thema aufgrund der ersten Begegnungen von Kirche und ihren Gebäuden als „Herberge“ gesprochen – das bleibt auch so. Herberge im Sinne von Schutz vor dem Wetter, das ist einfach zu erklären. Kirche als Ort der Geborgenheit und Schutzraum kann man auch historisch belegen und beschreiben. Auch im übertragenen Sinne gilt das. Kirche als heiliger Ort, der eine nicht immer näher beschreibbare Faszination ausstrahlt – das ist erst einmal zur Kenntnis zu nehmen – ein erstes Fazit.
Wir kommen vom Christentum nicht los, jedenfalls nicht so leicht, wie manche es vielleicht hoffen! Ich erlebe auf meinen Reisen: Überall in Europa zeigt das Christentum seine Beharrlichkeit. In Stein gehauen als Kathedrale in der Stadt wirkt es fort. Denken Sie an die Berichterstattung zum Feuer in Notre-Dame in Paris vor einigen Wochen und das dort spontan gesungene „Ave-Maria“ auf der Straße! Als ausgeschmückter barocker Dom in Bayern oder norddeutsche Backsteinkirche um die Ecke, als verwahrloste Dorfkirche irgendwo im Süden Frankreichs oder als kleine Kapelle am Wegesrand in Wales wirkt es trotzdem. Eine täglich geöffnete Kirche – sorgsam gepflegt – signalisiert: Das Christentum ist (noch) da. Es fasziniert und stört, ja, manchmal verstört es, und doch ruft es durch diese Art Verkündigung des Evangeliums immer wieder neu zur Begegnung mit Gott. Unser christlicher Glaube übt nach wie vor einen besonderen Reiz aus. Aber ganz anders als vielleicht erwartet oder innerhalb unserer Denkschemata erhofft. Deswegen spreche ich gerne vom Kirchgebäude als ‚sichtbares Wort Gottes‘
Inzwischen präzisiere ich aufgrund der Erfahrung meine Erkenntnisse auch mit dem folgendem Wortgebilde: In unseren Kirchen sind wir als Pfarrer für einen kurzen oder längeren Moment mit Gott und Menschen gemeinsam unterwegs durchs Leben. Dazu bieten offene Kirchen eine Möglichkeit von vielen. Dieses Kirche-für-den-Moment-Sein ist mir inzwischen sehr vertraut geworden und hat auch einen immens erleichternden Aspekt meiner Tätigkeit als Pfarrer zur Folge.
Mögen Sie Beispiele erzählen?
Da kommt eine Frau und bittet darum, für einen Moment in die Kirche gehen zu können und dort zur beten. „Natürlich“, sage ich, „warum denn nicht?“ Und sie geht und betet, wir sprechen kurz auf der Kirchenbank miteinander, ich gehe wieder raus. Später schreibt sie ein paar Gedanken ins Gästebuch. Das reicht aus. Für den Moment, soweit ich sehe. Und dann lese ich zwei Jahre später völlig überrascht im Gästebuch dem Sinne nach: „Ich war nach zwei Jahren wieder in dieser Kirche. Ich erinnerte mich an das Gespräch damals und die guten Gedanken des Pfarrers. Danke, dass diese Kirche dafür geöffnet ist!“. Das mag anderen Menschen an anderen Orten ebenso gegangen sein. Kirche hat ein offenes Ohr und Herz für den Menschen, hier, jetzt und heute.
In einem Fall hat eine Trauerbegleitung so ausgesehen, dass wir eine Andacht für einen Menschen gestaltet haben, der verstorben war und dabei als Erinnerung und Symbol für Menschen mit einer geistigen Behinderung nach der Andacht ein paar Luftballons steigen lassen. Zwei Ballons „entwichen“ allerdings frühzeitig und klebten 10 Tage an der Kirchdecke. Darüber entstanden Gespräche mit zufällig vorbeischauenden Touristen – mit tieferem Inhalt als manch anderes Gespräch über den Kirchenzaun. Das sind extrem wertvolle Erfahrungen für mich – und es genügt mir zu wissen: Dieses eine Gespräch ist Teil eines Unterwegs-Sein des betreffenden Menschen mit Gott, wenn auch anders, als ich es gedacht, traditionell gelernt und für richtig erachtet habe. Ich bin in diesem Fall nur ein klitzekleiner Teil im Gesamtbild des Lebens mit Christus für diesen Menschen. Aber es reicht aus. Wann und ob dieser Mensch noch einmal wiederkommt oder anderswo einen Gottesdienst besucht; ich habe es nicht in der Hand. Gott mag es schenken, Gott mag es lenken. Es liegt in seiner Hand, nicht in meiner Verfügungsgewalt. Anders gesagt: Die Begegnung mit Menschen, die eine offene Kirche besuchen und mit mir ins Gespräch kommen – es ist tatsächlich nur ein Bruchteil derer, die die offenen Kirchen in Bleckmar und Hermannsburg besuchen – das hat meinen Horizont von Kirche-Sein ziemlich verändert. Es ist genug, wenn man sich gemeinsam auf dem Weg in die Ewigkeit einen Moment lang gemeinsam bestärken kann.
Wo wir bei Tourismus sind: Was sind Ihre drei persönlich favorisierten und erwünschten Reiseziele?
‚Ah, but your land is beautiful‘ heißt ein Buchtitel von Alan Paton aus Südafrika – aber Südafrika ist für mich kein Reiseziel mehr, obwohl ich dort 23 Jahre lebte. Die Welt ist auch anderswo schön und facettenreich. Der Westen Kanadas lockt – mit einer Handvoll Geld ($ 20.-) ist dort immer noch vieles möglich. Ein zweites Wunschziel ist Südostasien. In meiner Zeit als Missionsdirektor entstanden Beziehungen, die ich gerne pflegen würde. Mich interessieren die Spuren der christlichen Mission in Japan und in Indonesien das Wirken des berühmten Ludwig Ingwer Nommensen. Eine echte Pilgerreise möchte ich irgendwann einmal nach Israel unternehmen, und dabei viel Zeit in der Ebene Jesreel zwischen Samaria und dem Berg Karmel, dem galiläischen Meer und schließlich noch Zeit ohne Hektik in Jerusalem verbringen. Es gibt einen „Jesus-Trail“ für Pilger rund ums galiläische Meer, soweit bin ich darauf immerhin schon vorbereitet. Wer weiß, ob von diesen Wünschen einer oder alle in Erfüllung gehen?